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Massive Abweichungen

Neue Verfilmung von Effi Briest (2009) - Interpretation und Interview mit M.-N. Heckner 17.02.2009, 02:33

Filmplakat von Huntgeburths Verfilmung von 'Effi Briest' (2009)
Bild: Filmplakat von Huntgeburths Verfilmung von 'Effi Briest' (2009)

Die aktuelle Verfilmung von Fontanes "Effi Briest" (Regie: Hermine Huntgeburth) erregt Aufsehen: Wieder einmal dürfen wir eine streckenweise freie Umsetzung einer klassischen Vorlage bewundern; als Bonus gibt es einen zünftigen Cunnilingus. Marc-Niclas Heckner (audiofilmkritik.de) interpretiert den Film und spricht über seine Eignung für den Deutschunterricht.

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Seit wenigen Tagen (12.02.2009) lässt sich die neue Effi-Briest-Verfilmung von Hermine Huntgeburth im Kino anschauen, Untertitel: “In einer Welt voller Zwänge entschied sie sich für die Freiheit.” Da Effi Briest unweigerlich alle paar Jahre in die Lehrplan schlüpft, freuen sich besonders Deutschlehrer/innen auf den neuen Film.

Eine umfängliche Kritik und einen Pressespiegel zu der neuen Verfilmung findet sich bei audiofilmkritik.de 16.02.2009: Filmkritik der Verfilmung von Effi Briest (Fontane). Der Betreiber des Portals, Marc-Niclas Heckner, war so freundlich, uns eine unterrichtsrelevante Kurzinterpretation des Filmes zur Verfügung zu stellen und uns einige Fragen zum Film zu beantworten.

Interpretation der Verfilmung “Effi Briest” (Hermine Huntgeburth. 2009)

von Marc-Niclas Heckner (audiofilmkritik.de)

Die Verfilmung des gleichnamigen Romans ist kurzweilig, überzeugend gespielt und regt dazu an, die angesprochenen Themen zu reflektieren. Auch die Verzahnung von Sinn- und Bildebene ist gelungen. Die Optik schwelgt während der Szenen, die Effis Suche nach Freiheit widerspiegeln in weiten Einstellungen über der Küstenlandschaft und stellt ihre Gefangenheit in bürgerlichen Strukturen durch das bedrohlich enge, dunkle Wohnhaus ihres Mannes dar. Martin Langers (Nichts als die Wahrheit, Die weiße Massai) Bildarbeit ist zwar recht konventionell geraten, die Entscheidung, nicht mit ausgefallenen Kamerafahrten das Filmische zu betonen, stellt sich allerdings als durchaus angebracht heraus, da so die Aufmerksamkeit nicht unnötig von der narrativen Substanz abgelenkt wird.

Schauspielerisch hat die Verfilmung von Theodor Fontanes Gesellschaftsroman mit Julia Jentsch eine bedeutende deutsche Jungschauspielerin verpflichtet, deren zusätzliches Engagement auf Theaterbühnen im deutschsprachigen Raum (u.A. Zürich, Hamburg und München) Spiegelbild ihrer Vielseitigkeit ist. Besonders in Kombination mit Sebastian Koch (Das Leben der Anderen) zieht sie, nicht zuletzt durch die moderne Inszenierung, die Zuschauer auf Effis Seite und lädt vielleicht sogar ein Stück mehr zur Identifikation ein, als dies bei einer vielschichtigen Betrachtung weiblicher Emanzipation und Abhängigkeit aus moderner Sicht angebracht wäre.

Auch wenn die Inhaltsebene zum Ende des Werks hin einen massiven Fauxpas begeht, die handwerklich gelungene Machart des Films, das Spiel der Protagonisten und natürlich die noch immer hochaktuelle Vorlage machen Hermine Huntgeburths Effi Briest zu einem Film, in dessen Publikum man bestens aufgehoben ist.


Interview mit Marc-Niclas Heckner (audiofilmkritik.de)

Marc-Niclas Heckner, Betreiber von audiofilmkritik.deMarc-Niclas Heckner, M.A., Jahrgang 1980, betreibt seit 2008 das Filmkritikenportal audiofilmkritik.de, das neben eigenen Besprechungen eine Übersicht über die allgemeine Rezeption der Filme gibt. Vorträge (z.B. Gender im Slasherfilm), Filmjuryarbeit, filmjournalistische Tätigkeit für die australischen und deutschen Magazine Filmink, Cinema und Deadline.

Lehrerfreund: Sie haben dem Film in Ihrer Kritik 3.5 von 5 möglichen Punkten gegeben. Können Sie die Ausschlag gebenden Faktoren nennen?

Marc-Niclas Heckner: Der Film ist an und für sich gut inszeniert und die Bilder passen zur literarischen Vorlage. Besonders das Spiel von Julia Jentsch und Sebastian Koch nehmen die Zuschauer recht schnell gefangen. Natürlich ist Hanna Schygulla in der Version von Rainer Werner Fassbinder die schillerndere Version von Effi, aber doch weiter weg von einer Art zu spielen, wie sie von einem jungen Menschen heute erwartet wird. Das Ende auf der anderen Seite ist in höchstem Maße problematisch und verändert nicht nur die Vorlage, sondern läuft der ganzen Logik von Buch und Film entgegen, deshalb wollte ich keine 4 oder sogar 4.5 geben.

Lehrerfreund: Effi Briest gilt unter vielen Schüler/innen als langatmig, wenn nicht langweilig - poetischer Realismus eben. Ist der Film spannender?

Marc-Niclas Heckner: Die Frage ist erst einmal, warum der Text als langweilig empfunden wird. Natürlich entspricht diese behutsame, präzise analysierende Sprache in ihrer Wucht nicht dem Drive der heutigen Unterhaltungsindustrie, die in Videospielen und Musikclips eine unglaublich rasante Ästhetik hat. Mit dem auf den Moment bezogenen Unterhaltungswert von Grand Theft Auto kann das Werk bei Jugendlichen deshalb sicher nicht konkurrieren. Aber diese Fragestellung, ob es möglich ist, aus gesellschaftlichen Zwängen auszubrechen, ob man auch heute noch zum gesellschaftlichen Scheitern verurteilt ist, wenn man seinen Neigungen und Vorlieben nachgeht, anstatt sich den Konventionen zu beugen; diese Frage ist doch bei Schülern in der Oberstufe so präsent wie in kaum einer anderen Lebensphase! Die Schüler, die noch immer von der großen Karriere im Musikbusiness, beim Film oder im Sport träumen, während die Eltern ständig mit der Forderung nach einem ‘soliden’ Beruf daneben stehen und sogar die, die sich von der Schule eigentlich nicht besonders viel versprechen, weil sie ihre Zukunft  nicht innerhalb des Gesellschaftsrasters sehen können, auf das die Schule in ihrem System hinarbeitet - genau die kriegen Sie mit der Thematik des Buchs! Stellen Sie doch einmal die ganz einfache Frage, ob man dem Herz oder der Vernunft folgen soll, oder in wie weit die gesellschaftlichen Normen sich seit dem 19. Jahrhundert gelöst hätten, was meinen Sie, was sich da an Diskussionen entwickeln wird, gerade bei Leuten, die sonst kaum zum Unterrichtsgeschehen beitragen. Der Film ist insofern ‘spannender’, als dass sich der Inhalt über relativ zugängliche Bilder entwickelt, ohne dass man sich mit der Sprache stark auseinandersetzen müsste, allerdings natürlich um den Preis, dass gerade diese Sprache wegfällt Deshalb ist die Verfilmung nicht als Ersatz für die Besprechung des Buchs, sondern eher als zusätzliche Möglichkeit zu sehen, einen Zugang zum Stoff zu finden, die Leute für die Thematik zu begeistern, so dass die Bereitschaft, die Sprache anzugehen, steigt.

Lehrerfreund: Welche Abweichungen von der literarischen Vorlage sind Ihnen besonders eindrücklich ins Auge gefallen?

Marc-Niclas Heckner: Das wirklich heftig Abweichende ist wie gesagt das Ende, wo Hermine Huntgeburth versucht, Effi Briest die Entscheidungen einer heutigen emanzipierten Frau treffen zu lassen und dadurch die Figur des von Innstetten völlig sinnentstellt. Effis Mann, Personifikation des steifen, sinnentleerten Folgens gesellschaftlicher Konventionen, möchte die Hauptfigur nämlich entgegen aller moralischer Vorstellungen zurückgewinnen. Dies ist nicht nur handlungsmäßig nicht schlüssig hergeleitet, sondern widerspricht der Anlage seiner Figur und ist zudem noch völlig unnötig. Zudem sind die Sexszenen relativ explizit dargestellt, was natürlich auch in der Vorlage nicht so angelegt war. Die fügen sich allerdings sehr gut in den Film ein und machen den Zugang zu den Figuren emotional erfahrbarer.

Lehrerfreund: Sind solche Sexszenen nicht etwas zu deutlich? In der Oberstufe, gewiss - aber der Film ist ab 12 Jahren freigegeben.

Marc-Niclas Heckner: Ich finde die Diskussion eigentlich blödsinnig. Sicherlich gehören Shortbus oder Irréversible nicht in den Unterricht der achten Klasse,und wenn ein Filmemacher versucht, Erwachsene durch extreme Bilder zu provozieren, ist es ohne Zweifel ein Fehler, diese Kindern zugänglich zu machen. Aber auch wenn die FSK in Sachen Zensur und einem oftmals problematischen Kunstverständnis durchaus Angriffsflächen bietet, wenn es darum geht, ob Filme ab 6, 12 oder 16 Jahren freizugeben sind, kann man sich auf die Urteile meistens verlassen. Zum einen ist es natürlich so, dass viele Schüler ein sehr viel lockereres Verhältnis zu Sexualität haben, als das bei uns in deren Alter der Fall war. Zum anderen ist die Darstellung von Sexualität ja nur dann belastend, wenn sie schockierend ist. Die Vergewaltigung in der Hochzeitsnacht ist da schon ein Beispiel, das nicht unbedingt jeder Zwölfjährige verdauen kann. Bei solchen Sachen ist immer Redebedarf, das fordert natürlich auch die Lehrkräfte - wenn die Schüler merken, dass sich der Lehrer bei der Thematik unwohl fühlt, dann verschärft das eher noch das Problem. Aber wenn man das einordnet in den Kontext, dass das eben symbolisiert, wie fremdbestimmt Effi in ihrem ganzen Leben ist, und vor allem, dass das nicht die Norm darstellt, dann ist die Szene auch bei Zwölfjährigen in Ordnung. Außerdem nimmt der Film an sich schon vermutlich eine stärkere Selektion als die FSK vor, die meisten Kinder werden sich mit zwölf, dreizehn wohl sowieso langweilen, so dass das in dem Alter vor allein Dingen vom inhaltlichen Anspruch her noch nicht sinnvoll ist. Und was die Liebesszene mit Crampas angeht, so ist diese von einer so positiven Energie getragen, dass das wohl selbst einen aufgeklärten Sechsjährigen nicht schockieren würde und der Oralsex bleibt ohnehin sehr in der Andeutung. Wenn Sie jetzt sagen, es könne einen Menschen allein schon in seiner moralischen Entwicklung stören, Julia Jentsch nackt zu sehen, so würde die Hauptdarstellerin sicherlich zu recht protestieren. Fangen wir bloß nicht an, in der Zensur von Nacktheit die amerikanische Filmwirtschaft nachzuäffen!

Lehrerfreund: Sie hatten doch auch mal Deutschunterricht. Welche Themen hätten Sie in Bezug auf Effi Briest bzw. die aktuelle Verfilmung gerne behandelt?

Marc-Niclas Heckner: Grundsätzlich interessiert mich - damals wie heute - vor allem die Problematik der gesellschaftlichen Norm, damit verbunden die Frage nach Bedingungen und Konsequenzen von Grenzüberschreitungen. Ebenfalls interessant fände ich:

  • Haben es Frauen in der heutigen Gesellschaft leichter als Effi? Ergeben sich mit den neuen Freiheiten auch neue Schwierigkeiten?
  • Hätte Effi sich nicht lieber um ihre Tochter kümmern sollen, anstatt sich am Ende aus Stolz zu weigern, zurück zur Familie zu kehren?
  • Gibt es heute ähnliche Handlungsmuster, wie das, welches von Innstetten dazu zwingt, sich aus Ehre mit Effis ehemaligem Liebhaber zu duellieren? Sind solche Muster sinnvoll?
  • Scheitert Effi in ihrem Versuch, erfolgreich auszubrechen? Im Film? Im Buch?
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Kommentare

3

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  • #1

    Mir hat dies auch sehr geholfen. Ich schreibe demnächst meine Facharbeit über das Thema der Darstellung Effis von Fontane und Frau Huntgeburth.
    Ich fand auch die Frage der Altersfreigabe, was bei uns im Unterricht auch Thema war, sehr gut gelöst. Ich bin der gleichen Meinung und fand den letzten Satz am gelungesten dazu. =)

    schrieb Jennifer am

  • #2

    Richtig schöne Zusammenfassung der Filmhandlung, vielen Dank! Hat Spaß gemacht, das zu lesen. Den Film leih ich mir heute abend aus: bin wirklich gespannt drauf. Zumal ich den Roman schon zwei mal gelesen habe.

    Vielleicht interessiert ja jemanden zusätzlich zu dieser guten Film-Inhaltsangabe noch eine gute Inhaltsangabe zum Roman? Falls ja, kann man hier eine finden: http://ekronshage.eu/2010/02/effi-briest-zusammenfassung-und-inhaltsangabe/

    Viele Grüße an den lehrerfreund!

    schrieb Literaturinterpretation am

  • #3

    Hallo Zusammen,

    habe mir nun die Neuverfilmung zu Effi Briest angesehen (gibt es ja mittlerweile auch auf DVD) und es hat mir im Großen und Ganzen gefallen. Die Kritikpunkte die Herr Heckner, in diesem sehr guten Artikel/Interview aufführt, kann ich so auch bestätigen. Besonders der Schluss ist etwas enttäuschend und auch das Fehlen von einigen Details an manchen Stellen hat mich etwas gestört und könnte für Zuschauer die das Buch nicht kennen, etwas verwirrend sein.

    Als Unterrichtsergänzung würde ich den Film schon zeigen, sofern die Zeit es zulässt. Problematisch finde ich allerdings immer die Zeit zwischen dem Ansehen und dem Besprechen des Films. Gerade frisch gewonnene Eindrücke gehen in diesem Zeitraum leider verloren, sodass man beides, wenn irgendwie möglich, in einem engen Zeitraum abschließen sollte.

    schrieb Peter am

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