Technik von gestern (4): Mühlenbauer 22.12.2016, 06:54

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Frühe Technik Die wesentlich von Elektronik und Digitalisierung geprägte Maschinentechnik des 21. Jahrhunderts hat mehrere Vorgängerstufen. Aus ihnen ragt die Mechanik des 19. und 20 Jahrhunderts heraus. Zeugnisse davon legen viele noch existierende, ja noch arbeitende Maschinen und Geräte ab. Sie wollen wir im tec.LEHRERFREUND nicht ganz vergessen. Hier geht es um den Mühlenbauer:

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Wer waren die Vorgänger der heutigen Maschinenbauer? 

Fragt man sich, wer wohl die Vorgänger der heutigen Maschinenbauer und der des 20. Jahrhunderts waren, dann stößt man auf einen untergegangenen Beruf, an den man nicht gedacht hätte: auf den Mühlenbauer. Was er zu tun hatte, wollen wir uns von einem, der sich mit alten Berufsbildern beschäftigt, beschreiben lassen. 

»Mühlenbauer galten als die Maschinenbauer der vorindustriellen Zeit«, schreibt Rudi Palla, »sie konstruierten und bauten Wasser- und Kehrräder, Wellbäume, Zahn-, Stock- und Schneckenräder und alle möglichen von Wasserrädern angetriebene Arbeitsmaschinen. 

Getreidemühle, vereinfachte Darstellung, unterschlächtiges Wasserrad

Bild: Getreidemühle, vereinfachte Darstellung, unterschlächtiges Wasserrad

Mit der Einführung des Wasserrades an Flüssen und Bächen im Mittelalter begann ein unaufhaltsamer Prozess der Mechanisierung von Arbeitsvorgängen. Zunächst wurde das unterschlächtige Wasserrad verwendet und seit dem 14. Jahrhundert jenes mit oberschlächtiger Wasserführung, wobei die gesamte Wassermenge von oben auf die Schaufeln drückte, was die Leistung verdoppelte. Mühlen mahlten Getreide, Senf und Quarzsand, stampften Textilien für die Papierherstellung und Schießpulver, walkten Tuche, pochten1) Erz und Knochen, rührten Farben und Tone, zwirnten Seide, trieben Schmiedehämmer und Blasebälge,

Bild Schmiedehammer

Bild: Schmiedehammer

zogen Draht, sägten Holz, bohrten Baumstämme, Zylinder sowie Kanonenrohre, bewässerten Wiesen und Felder, pumpten Trinkwasser und Wasser (aus Bergwerken), ja sogar für die Fontänen absolutistischer Lustbarkeit und königlichen Repräsentationsbedürfnisses wie etwa in Versailles. 

Die Umsetzung der vom Schaufelrad ausgehenden horizontalen Drehbewegung in eine Auf- und Abbewegung (für Stampfen und Hammerwerke) besorgten Nocken- und Daumenwellen; die Umwandlung in eine vertikale Drehbewegung wurde durch Zahnrad-Winkelgetriebe gelöst. Unter Stangenkunst verstand man die Übertragung der Wasserradbewegung über ein hin- und hergehendes Gestänge, wodurch eine Verbindung von der Kraftmaschine zur Arbeitsmaschine hergestellt wurde. Die Konstruktion der einzelnen Maschinenteile, ihr wirksames Zusammenspiel, Hubhöhen und die Übersetzung der Geschwindigkeiten durch passende Raddurchmesser und Zähnezahlen erforderten technisches Wissen, praktische Erfahrung und handwerkliche Geschicklichkeit des Mühlenbauers. 

Vom 13. bis zum 17. Jahrhundert entwickelte sich der Durchmesser der Wasserräder von einem bis drei Meter auf 10 Meter und mehr bei einer entsprechenden Leistungssteigerung von etwa einer Pferdestärke auf rund zehn. Nach den Schätzungen von Fernand Braudel arbeiteten im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts 50- bis 60tausend Wassermühlen.

Um das Jahr 1615 schuf der kurfürstlich-pfälzische Ingenieur Salomon de Caus2) drei Klassen Arbeitsmaschinen. Es waren die »Acrobatica, dardurch allerhandt Laste erhoben werden, und deren sich Zimmerleuth, Steinmetzen und auch Kauffleuth, wenn sie ihre Wahren auß den Schiffen heben, zu gebrauchen pflegen; Pneumatica, dieweil sie ihre Bewegung von der Lufft hat, so entweder durch Wasser oder durch andere Mittel verursacht wird: daher denn die machinae, so zur Zierdte der Grotten und springenden Brunnen dienlich, entspringen, und Banausica3), deren man sich nicht allein in Bewegung großer Laste, sondern auch zu anderen Sachen dienlich, zu gebrauchen: und hier gehören Wasser- und Windtmühlen, Pompen, Pressen, Uhrwerk, Wagen, Schmidtsbälge und andere dergleichen, deren man in gemeinem Leben nicht wohl kann entrathen.« Jacob Leupolds unvollendet gebliebenes Theatrum machinarum generale, welches zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Druck erschien, klassifizierte die Maschinenteile oder Rüstzeuge in fünf Gruppen: Der Hebel (vectis), Seil und Kloben oder Flaschenzug (trochlea), der Haspel nebst Rad und Getriebe (rota, axis in peritrochio), der Keil (cuneus) und die Schraube (cochlea). Aus diesen einfachen Rüstzeugen konstruierte man die »zusammengesetzten Maschinen«

Die wohl gigantischste Wasserkraftanlage der damaligen Zeit wurde 1685 bei Marly an der Seine in Betrieb genommen, die wie kein anderes Werk die Fähigkeiten, aber auch die Grenzen der Mühlenbaukunst aufzeigte. Das Wasser der Seine drehte 14 Wasserräder mit je 12 Meter Durchmesser, die über ein kompliziertes Gestänge insgesamt 259 Kolbenpumpen antrieben und das Wasser in drei Stufen etwa 163 Meter zum Schloß Marly hinaufpumpten und auch die Fontänen im Schloßpark von Versailles versorgten. Auftraggeber dieser nach Plänen des aus Lüttich stammenden Arnold de Ville gebauten Maschinenanlage war der französische König Ludwig XIV. Das Werk verschlang nicht nur immense Geldsummen, auch der Materialverbrauch war enorm. Allein an Eisen wurden 17 500 Tonnen, an Blei 900 Tonnen und an Kupfer 850 Tonnen verarbeitet.

Der ... englische Ingenieur William Fairbain, der dank seiner Verbesserungen an Spinnereimaschinen vom Tagelöhner zum Fabrikbesitzer aufstieg ..., nennt den Mühlenbauer jener Zeiten den einzigen Vertreter des Maschinenbaus: »Er war die unübertroffene Autorität, wo immer es galt, Wind und Wasser als Antriebskraft für irgendeinen Betrieb zu benutzen. Er war der Ingenieur des Bezirks, in dem er lebte, er war eine Art Hansdampf in allen Gassen, der ebensogut an der Drehbank, wie am Amboss und an der Hobelbank Bescheid wusste«, ja der »sogar Brücken und Kanäle« baute und viele Arbeiten verrichtete, »die jetzt der Bauingenieur durchzuführen hat«.

Mit der Weiterentwicklung der Newcomen-Dampfmaschine durch den gebürtigen Schotten und gelernten Feinmechaniker James Watt, der 1769 sein erstes Patent anmeldete, entstand eine zunächst sehr teure, reparaturanfällige und Brennstoff verschlingende Antriebsmaschine, deren Verbreitung in Deutschland eher schleppend vor sich ging. Die kostenlose Wasserkraft als Antriebsquelle wurde noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts intensiv genützt, und erst dann setzte ein langsamer Prozess der Verdrängung des Wasserrades ein. Das Wasser als Energieträger wurde von der Kohle, das Holz, der bisher wichtigste Werkstoff für den Maschinenbau, durch das Gusseisen und das schmiedbare Eisen abgelöst, und aus dem Mühlenbauer wurde ein Maschinenbauer.« 

Quelle: Verschwundene Arbeit, Rudi Palla, Christian Brandstätter Verlag, 2010

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Christian Brandstätter Verlags. 


Anmerkungen tec.LEHRERFREUND: 

1) pochen = hämmern, klopfen, schlagen, trommeln; (süddeutsch, österreichisch umgangssprachlich) pumpern 

2) Der Franzose Salomon de Caus (1576–1626) ist als Schöpfer des Hortus Palatinus (des Heidelberger Schlossgartens) bekannt. Unter den Nachfolgern Leonardo da Vincis war er einer der herausragenden Ingenieure von europäischem Format. Er ist zu Unrecht in Vergessenheit geraten. 

3) Wir gestehen es: Banausica ins Deutsche zu übersetzen, überfordert uns (tec.LF). 

 

Wir fassen zusammen: 

Vor dem 14. Jahrhundert ist für Mühlenantriebe das unterschlächtige Wasserrad gebräuchlich.  

14. Jahrhundert: Das oberschlächtige Wasserrad wird eingeführt. 

17. Jahrhundert: Wassermühlenantriebe erreichen ein hohes technisches Niveau. Es entstehen theoretische Ausarbeitungen, die es Mühlenbauern ermöglichen, das Niveau von Ingenieuren erreichen.

Ende des 18. Jahrhunderts: In Europa arbeiten fünfzig- bis sechzigtausend Wassermühlen. 

Im 19. Jahrhundert beginnen Dampfmaschinen, die Wasserrad-Antriebstechnik zu verdrängen. 


Wir fügen hier eine fast unglaubliche und doch wahre Geschichte an, die von den Gefahren des Müllerberufs erzählt. 

Im Jahr 1862 berichtet eine Zeitung von einem Vorfall, der sich in der an der oberen Donau gelegenen Geisinger Mühle abspielte. 

Geisingen, 31. Juli 1862

»Heute ereignete sich ein beklagenswerter Unglücksfall. Der Sohn des hiesigen Müllers, Friedrich Kreuzer, besorgte in der Mühle wie gewöhnlich sein Geschäft. In einem freien Augenblick stellte er sich, um die Zeitung zu lesen, an die Ecke einer Fensternische. Plötzlich ward in dem großen Mühlengebäude ein furchtbarer Knall vernommen; der Läufer des kaum drei Fuß von dem Fenster, an dessen Ecke sich der Genannte gestellt, befindlichen Mahlganges zersprang in zwei Hälften. Ein Schrei, wie der heftige Knall führte alle in der Mühle anwesenden Personen zu dem besagten Mahlgange und fand man dort den unglücklichen Jüngling von der einen Hälfte des Steines getroffen und furchtbar zugerichtet. Der Stein hatte die hölzerne Umwandung des Mahlganges sowie den eisernen aber nur dünnen Reif zersprengt und ward mit seiner ganzen Wucht an die Wand geschleudert und zerquetschte dem unglücklichen braven Jüngling die beiden Schenkel und dessen Unterleib in der Art, daß er nach 1 1/2 Stunden den Geist aufgab. Der Verunglückte zählte kaum 22 Jahre. 

Der Vorfall kann allen Mühlenbesitzern zur Verwarnung dienen, die Läufer der Mahlgänge mit starken eisernen Reifen zu umgeben und von Zeit zu Zeit vorsorgliche Prüfungen über deren Zustand vorzunehmen.«  

Bild Angefertigt aus den Haaren eines verunglückten Müllers

Das Foto zeigt ein kleines Kunstwerk, das vielleicht die Mutter aus den Haaren ihres so unglücklich ums Leben gekommenen Sohnes angefertigt hat (Original-Bildgröße außen 12,0 x 15,5 cm).

 

Auf der Rückseite des Bilds steht: 

Glaube, Hoffnung, Liebe

Angefertigt aus den Haaren des  
Friedrich Kreuzer, Müller

* 22. März 1840   + 31. Juli 1862 
in der Stadtmühle zu Geisingen

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Kommentare

1

Zum Artikel "Technik von gestern (4): Mühlenbauer".

  • #1

    Vielen Dank für den interessanten Artikel.
    Mein Großvater mütterlicher Seits war Mühlbauer und Kunsttischler. Leider habe ich ihn nie kennenlernen dürfen. Er ist mit meiner Großmutter in den Nachkriegswirren umgekommen.
    Nochmals vielen Dank!
    R.K.

    schrieb R.K. am

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