Schullektüre vereinfacht
Klassiker in moderner Sprache - Frevel oder Segen? 10.06.2024, 11:55
Schiller, Goethe und all die anderen Klassiker/innen befleißigen sich einer Sprache, die bei Schüler/innen häufig zu Stöhnen oder gar Unverständnis ganzer Passagen führt. Einige Verlage geben sprachlich modernisierte oder vereinfachte und gekürzte Werke heraus, um Schüler/innen den Zugang zu erleichtern.
Jede/r Deutschlehrer/in kennt das Problem: Im Bildungsplan steht der Woyzeck, die Schüler/innen scheitern jedoch schon rein sprachlich daran.
Um den Zugang zu erleichtern, gibt es vereinfachte Versionen der in Schulen häufig gelesenen Klassiker, teilweise auch moderner Jugendbücher.
Beispiele für vereinfachte Klassiker
Cornelsen: Einfach klassisch
Der Cornelsen-Verlag betreibt seine Reihe »Einfach klassisch« (früher: »… einfach klassisch«) mit der Untertitelung »Klassiker für ungeübte Leser/innen« seit mehr als 20 Jahren erfolgreich. Stand 2024 sind 20 Bände erschienen, die den einen Großteil des Schulkanons abdecken, darunter Kleider machen Leute (Gottfried Keller), Der zerbrochne Krug (Heinrich v. Kleist), Wilhelm Tell (Friedrich Schiller), Die Räuber (Schiller), Kabale und Liebe (Schiller), Die Leiden des jungen Werther (Johann Wolfgang v. Goethe), Götz von Berlichingen (Goethe), Der Schimmelreiter (Theodor Storm), Faust (Goethe), Nathan der Weise (Gotthold Ephraim Lessing) etc. Zu allen Publikationen gibt es kostenlose Arbeitsblätter, die separat bestellt werden müssen.
Das Konzept besteht aus »behutsamen Kürzungen und textlichen Vereinfachungen« (Cornelsen: Einfach klassisch). Außerdem beinhalten die Texte Fußnoten/Randnotizen mit Worterklärungen und zusätzliche Infoboxen zu möglicherweise unklaren Themen (etwa: Wie funktioniert ein Duell (Kabale und Liebe), Was ist eine Revision (Der zerbrochne Krug)). Manche Bände enthalten auch kurze Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel, einfache Personenübersichten oder Fragen zum Inhaltsverständnis. Die einzelnen Abschnitte enthalten leicht verständliche Kapitelüberschriften, bei Kabale und Liebe:
- Miller will nicht, dass der Major in sein Haus kommt
- Sekretär Wurm kommt zu Besuch
- Luise schwärmt von ihrem Geliebten
- Luise sieht die Standesunterschiede
Der Grad der Vereinfachung schwankt stark zwischen den Ausgaben - während beim Faust vor allem Kürzungen vorgenommen wurden, der Text aber kaum verändert wurde, sind die Eingriffe bei Romeo und Julia auf dem Dorfe (Gottfried Keller) deutlicher:
An dem schönen Flusse, der eine halbe Stunde entfernt an Seldwyl vorüberzieht, erhebt sich eine weitgedehnte Erdwelle und verliert sich, selber wohlbebaut, in der fruchtbaren Ebene. Fern an ihrem Fuße liegt ein Dorf, welches manche große Bauernhöfe enthält, und über die sanfte Anhöhe lagen vor Jahren drei prächtige lange Äcker weithingestreckt gleich drei riesigen Bändern nebeneinander.
An einem schönen Fluss erhebt sich eine weite Hügelkette und verliert sich in der fruchtbaren Ebene. Dort liegt, eine halbe Stunde von Seldwyla entfernt, ein Dorf mit großen Bauernhöfen. Auf der sanften Anhöhe befanden sich vor Jahren drei lange Äcker nebeneinander wie drei riesige Bänder.
Ähnlich bei Kabale und Liebe:
Miller (schnell auf- und abgehend). Einmal für allemal! Der Handel wird ernsthaft. Meine Tochter kommt mit dem Baron ins Geschrei. Mein Haus wird verrufen. Der Präsident bekommt Wind, und kurz und gut, ich biete dem Junker aus.
Frau. Du hast ihn nicht in dein Haus geschwatzt – hast ihm deine Tochter nicht nachgeworfen.
Miller (schnell auf und ab gehend). Ein für alle Mal! Die Sache wird ernst. Meine Tochter kommt mit dem jungen Major ins Gerede. Mein Haus verliert seinen guten Ruf. Der Präsident bekommt Wind davon und - kurz und gut, ich lasse nicht mehr zu, dass der junge Herr hierherkommt.
Frau. Du hast ihn nicht gebeten, in dein Haus zu kommen - hast ihm deine Tochter nicht nachgeworfen.
Latona: …verstanden!
Ein etwas weitergehendes Konzept verfolgt die Autorin Latona, die Goethes Faust und Büchners Woyzeck in leicht verständliche Prosa übersetzt hat (siehe auch beim Lehrerfreund: Goethes »Faust I« in Prosa übersetzt - Interview mit der Autorin). Sie überführt Dramentexte in Prosa. Damit kann man selbst ohne Germanistikstudium den Woyzeck in einer Stunde wegschmökern.
Weitere Beispiele: Klassiker in Einfacher Sprache
Einfache Sprache bedeutet: Auch Zweitsprachler/innen oder sehr schwache Leser/innen sind die Zielgruppe. Einfache Sprache wird u.a. von politischen Institutionen und Organen zusätzlich angeboten, bspw. auf der Website des Bundeskanzlers: Bundes-Kanzler: Informationen in Leichter Sprache. Es geht hier also mehr um Barrierefreiheit als um die Entschärfung antiquierter Sprachverwendung wie in den vorigen Beispielen.
Der Michaelsbund hat einige Klassiker in Einfacher Sprache anzubieten, bspw. Erzählungen von Theodor Storm in Einfacher Sprache oder George Orwell: 1984 in Einfacher Sprache. Hier werden gezielt sehr schwache oder fremdsprachliche Leser/innen angesprochen - der Klappentext von 1984 kommt schon mehrheitlich ohne Nebensätze aus:
Winston Smith lebt in London. Aber nicht im London wie wir es kennen. Im London von Winston ist es gefährlich. Der Große Bruder hat dort das Sagen. Er weiß alles, was die Menschen tun und denken. Alle werden ständig von Kameras und Abhörgeräten beobachtet. Sie sollen hart arbeiten und an nichts Falsches denken. …
Ähnlich die Schullektüren von Arena in Einfacher Sprache. So wird bspw. die Woodwalkers-Serie für die Sekundarstufe I gekürzt und mit Unterrichtsmaterialien angeboten. Die ersten Zeilen zeigen das Konzept:
Man nennt mich den »geheimnisvollen Jungen«. Zeitungen und TV-Sender berichten über mich.
Ich bin eines Tages aus dem Wald aufgetaucht.
Die Leute sagen über mich: »Niemand weiß, wer er ist. Auch er selbst nicht, denn er hat sein Gedächtnis verloren.«
In der Niveau-Hölle: klassik modern
Die Reihe »klassik modern« des Verlags »moderne zeiten« wird (leider?) nicht mehr aufgelegt. Wir überlassen Manuel Hartung auf Zeit.de das Wort, wo fast schon angeekelt von »Ultralight-Versionen« klassischer Werke gesprochen wird:
Zwei ehemalige Redakteure der Bild-Zeitung schreiben Goethe, Schiller und Shakespeare auf Groschenroman-Niveau herunter. Schillers Drama Die Räuber ist nun ein Roman mit Comic-Sprache: “‘Oh, Gott! Nein.’ - ‘Wie bitte?’ - ‘Ach, äh ... nein’”, lassen die Ex-Bild-Leute ihre Protagonisten stammeln.
Klassiker als Graphic Novels
Die bekanntesten Bearbeitungen als Graphic Novel dürften die beiden Faust-Adaptionen von Alexander Pavlenko/Jan Krauß und Flix sein. Während Flix: Faust - Der Tragödie erster Teil (Carlsen Verlag) eher frei und im Cartoon-Stil mit der Vorlage umgeht, behält Alexander Pavlenko: Faust (editionfaust) die düstere, komplexe Stimmung bei.
Zahlreiche Klassiker wurden als Comic oder Graphic Novel bearbeitet, oft mit dem Vermittlungshintergrund DaF (Deutsch als Fremdsprache). Suchen Sie nach »Graphic Novel« und dem Namen ihrer Lektüre, dann stoßen Sie bspw. auf Nicolas Meylaender, David Boller: Die Legende von Wilhelm Tell: Eine Graphic Novel nach Friedrich Schiller oder Carina Janas: Die Räuber (DaF, Klett).
Da diese bildlastigen Bearbeitungen für den Deutschunterricht doch sehr weit weg von den Vorlagetexten sind, gehen wir nicht weiter darauf ein. Allerdings kann man sich hier als Lehrer/in schon mal eine gute Folie für einen Einstieg ziehen.
Didaktische Bewertung
Die Meinungen zu diesen Konzepten gehen weit auseinander. Den Purist/innen sträubt sich die Körperbehaarung, sie empfinden solche Umarbeitungen der großen Meister als Sakrileg. Auf der anderen Seite stehen die Pragmatiker/innen, die bildungsfernen Schüler/innen eben Kleider machen Leute in die Köpfe trommeln müssen und dankbar sind für Versionen, die sich sprachlich der Klientel angleichen.
Letztlich läuft alles auf eine didaktische Fragestellung hinaus: Welche Ziele verfolgt das Bildungssystem, wenn es Schüler/innen Klassiker lesen lässt? Geht es nur um die Inhalte, oder soll ein Fenster in Sprache und Gedankenwelt vergangener Epochen geöffnet werden? Diese Frage müssen Sie als Lehrer/in beantworten.
In jedem Fall sollte man diese Ansätze nicht exklusiv betrachten. Warum nicht mit den Oberstufenschüler/innen den Faust als Prosa lesen, so dass alle wissen, worum es geht - und dann einzelne Stellen nachlegen?
Fazit
Alte Bücher sind schwer zu lesen. Aber es gibt sie auch in einfacher Sprache. Diese versteht man leichter. Dann weiß man, was drin steht. Und vielleicht macht das Lesen auch Spaß.