Wettbewerb
Wettbewerb: »Der schönste erste Satz« (bis 21.09.2007) 19.05.2007, 04:03
Herrlicher Wettbewerb mit hochwertigen Reisepreisen: Welches ist IHR schönster erster Satz aus einem deutschsprachigen Werk? Mitmachen können in getrennten Kategorien Kinder/Jugendliche, Schulklassen und Erwachsene. Der Lehrerfreund legt gleich mal ein paar wichtige Überlegungen und Beispielsätze vor.
Der Wettbewerb “Der schönste erste Satz” wird von der Stiftung Lesen und der Initiative Deutsche Sprache veranstaltet. Die Preise sind wirklich verlockend:
- Preise Erwachsene (1. Preis: eine Woche New York)
- Preise Kinder/Jugendliche (1. Preis: Reise auf einem Hausboot durch die französische Camargue für die ganze Familie)
- Preise Schulklassen (1. Preis: Workshop mit dem Rap-Poeten Bas Böttcher - Homepage, Wikipedia)
Zur Teilnahme (bis 21. September 2007) muss eine Begründung (maximal eine DIN A4-Seite) abgegeben werden:
Welche Erwartungen weckte der von Ihnen gewählte schönste erste Satz? Welche Stimmung löste er bei Ihnen aus? Und hielt die Geschichte, was der erste Satz versprach?
Für die Arbeit mit Schulklassen (5-12) gibt es Unterrichtsmaterial zum PDF-Download und zusätzliches Material online.
Was macht einen “guten” ersten Satz aus?
Ich habe die letzten drei Stunden vor meinem Bücherregal verbracht und “gute” erste Sätze gesucht. Aber was heißt schon gut? Es gibt so viele erste Sätze, die inhaltlich und stilistisch genial gebaut sind, in denen sich Entstehungskontext und Themen des Werks atemberaubend verdichtet niederschlagen, in denen jedes einzelne Wort ein hermeneutisches Schlachtfest verspricht - und doch regt sich beim Lesen jenseits des surrenden kognitiven Apparats nichts, wie das folgende Beispiel verdeutlichen mag:
Zugegeben: Ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, lässt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann.
Günter Grass: Die Blechtrommel
Die “Qualität” des ersten Satzes wird durch die angesprochene rezeptionsästehtische Dimension zu einer ziemlich subjektiven Angelegenheit, und dennoch lässt sich das eine und ausschließliche Kriterium formulieren:
Ein guter erster Satz muss zum Rest des Werkes passen.
Es ist nicht möglich, den ersten Satz eines Werkes zu beurteilen, das man nicht kennt und verstanden hat - mag er noch so filigran, tiefgründig oder spannend sein. Ein spannender erster Satz zu Beginn eines langweiligen Werks ist kein guter erster Satz. Dies beweist der erste Satz von Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon, ein Buch, das ich, wie ich schamlos gestehe, vor wenigen Stunden halb gelesen in den Papierkorb geworfen habe (ich werfe Bücher, die mir nicht gefallen, immer ohne Reue weg). Aus meiner Sicht ein stinklangweiliges, zwangspostmodernes Spurengesuche. Wer diesen Roman jedoch voll bebender Spannung aufgefressen hat, für den kann der erste Satz durchaus ein ästhetisches und kognitives Erlebnis sein:
Der Tag, nach dem im Leben von Raimund Gregorius nichts mehr sein sollte, wie zuvor, begann wie zahllose andere Tage.
Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon
Der erste Satz muss also Themen, Figuren, Probleme in sich vereinen. Auf den Entstehungs- und Bedeutungskontext anspielen. Das Ende andeuten (oder eben nicht). Ein guter erster Satz antizipiert Erzählweise und Stilistik des Restwerks. Kurz: Der erste Satz muss auf metaphorische Weise Programm des restlichen Werkes sein. Sonst ist es kein guter erster Satz.
Damit muss ein guter erster Satz auch nicht gefällig, originell oder spannend sein. Das betrifft jedoch nicht die ästhetische Dimension - und nach der wird im Wettbewerb ja gefragt: Der schönste erste Satz. Aber in der Literatur ist “schön” und “gut” ja irgendwie dasselbe.
Die schönsten ersten Sätze aus Dem Lehrerfreund-Regal
Es ist ganz schön schwierig, zwischen einem guten ersten Satz und einem guten Buch zu unterscheiden. In den folgenden Beispielen konnte ich viele meiner Lieblingsbücher wider Erwarten nicht platzieren - so z.B. Haruki Murakami: Wilde Schafsjagd, das mit dem Satz
beginnt. Dafür komme ich trotz inneren Ringens nicht umhin, Charles Bukowski und Karl May aufnehmen zu müssen.
Ich war 50 und hatte seit vier Jahren keine Frau mehr im Bett gehabt.
Charles Bukowski: Das Liebesleben der Hyäne
Lieber Leser, weißt du, was das Wort Greenhorn bedeutet?
Karl May: Winnetou I
Es war einmal eine Prostituierte namens Maria.
Paul Coelho: Elf Minuten
Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt.
Heinrich Mann: Der Untertan
Es war einmal eine kleine Hexe, die war erst einhundertsiebenundzwanzig Jahre alt, und das ist ja für eine Hexe noch gar kein Alter.
Otfried Preußler: Die kleine Hexe
Die Amme hatte die Schuld.
Thomas Mann: Der kleine Herr Friedemann
Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.
Die Bibel
Schmieriger kleiner Scheißkerl, dachte Jack Torrance.
Stephen King: Shining