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Epik

Epik - erzählerische Mittel und Formen 17.03.2008, 00:17

Umfangreiches, strukturiertes Epik-Skript aus einer sehr guten Einführungsvorlesung in die Literaturwissenschaft bei Prof. Jochen Schmidt, 1995. Themen u.a.: erzählerische Mittel (Perspektive, Personenrede, zeitliche Gestaltung), erzählerische Formen (Novelle, Märchen, Epos, Roman).

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Dieses Skript wurde bei einer Einführungsvorlesung in die Literaturwissenschaft von Prof. Jochen Schmidt ca. 1995 angefertigt. Alle Angaben ohne Gewähr. (c) Berthold Metz

Inhalt des Skripts

  • Gegensatz Epik - Lyrik
    • Vorhandensein eines Erzählers
    • Zeitliche Dimension ist vielschichtiger
  • A) Grundformen des Erzählens
    • Auktoriales Erzählen
    • Personales Erzählen
    • Neutrales Erzählen
    • Ich-Erzählung
  • B) Erzählerische Darbietungsformen der Personenrede
    • Innerer Monolog
    • Erlebte Rede
  • C) Bauformen des Erzählens
    • Leitmotiv
    • zeitliche Ordnung
    • zeitliche Gestaltung
  • D) Erzählerische Formen
    • Kleine Erzählerische Formen
      • Novelle
        • Geschichte der Novelle
        • Unterschiede zwischen älteren Novellen (Boccaccio) und Novellen des 19. Jh.
        • Auswahl der wichtigsten Novellen
      • Das Märchen
        • Kunstmärchen vs. Volksmärchen
        • Typischer Stil des europäischen Volksmärchens
    • Große Formen
      • Epos
        • Theorie zur Entstehung des Epos
        • Epischer Stil
      • Roman
        • Schelmenroman
        • Bürgerlicher Roman
          • Briefroman
          • Bildungsroman
          • Gesellschaftsroman
          • Auflösung des bürgerlichen Romans im Naturalismus
        • Moderner Roman des 20. Jh.
          • Zwei Hauptmerkmale des Epochenromans
          • Erzählerische Innovationen
          • Neuerungen


Vor dem 18. Jh. galt der Roman als am wenigsten populäre Textgattung (vgl. z.B. Gottsched); zuvor fand man ihn hauptsächlich als Versroman: Homer, Vergil; Hartmann v. Aue, Wolfram v. Eschenbach. Erst im späten MA kommt der Prosaroman auf. Zum Teil wurden Versromane in Prosa überführt (Prosaauflösung), z.B. “Prosa-Lanzelot”.

Die letzten Großformen in Versen zu finden bei Klopstock (Messias); Wieland; Goethe (Hermann und Dorothea); Heine (Deutschland, ein Wintermärchen). Seit Mitte 19. Jh. fast alle erzählende Literatur in Prosa, was in scharfem Gegensatz zur Lyrik steht:

Gegensatz Epik -  Lyrik

Vorhandensein eines Erzählers

Dieser vermittelt zwischen Handlung und Rezipient, z.B.

  • Thomas Mann: Dr. Faustus
    - biographischer Erzähler (≠ Autor !); aus seiner Perspektive wird erzählt; der Autor enthebt sich der Verantwortung für die geäußerten Ansichten; ironische Selbstrelativierung des Autors: Alles Erzählen ist immer ein perspektivischer Akt.
  • Goethe
    verwendet eingeschobene Novellen, die von einer Figur des Romans erzählt werden und etwas über diese aussagen. Auch unmarkierte Erzähler sind perspektivisch geprägt.

Zeitliche Dimension ist vielschichtiger

  • z.B. episches Präteritum (=historisches Präsens): Erzählen hat retrospektiven Charakter (nicht präsentischen !)
  • Unterschied zwischen Erzählzeit (z.B. 2 Seiten) und erzählter Zeit (z.B. 10 Jahre) (große Differenz z.B. bei James Joyce: Ulysses)

A) Grundformen des Erzählens

sind auktorial, personal und neutral - Mischformen sind an der Tagesordnung

Auktoriales Erzählen

Zunahme von auktorialier Extremität von a) bis c)!

  1. Der Erzähler spricht aus einer souveränen Überschau; er kann sogar allwissend sein (er kennt die Gedanken und Gefühle der Handelnden)
  2. Der Erzähler kommentiert und bewertet das Erzählte; dies kann in einer Leseransprache begangen werden (der Erz. tritt aus dem fiktionalen Zusammenhang).
  3. Kommentare können auch zur Art des Erzählens gegeben werden; eine Art Selbstreflexion (z.B. Jean Paul, E.T.A. Hoffmann, Thomas Mann)

——-> der Erzähler kann ohne Rücksicht auf die Handlung abschweifen. Diese Eigenmächtigkeit bewirkt eine deutliche Distanzierung zu der von ihm dargestellten Welt bis hin zur Ironisierung.
Lektüre - Kleist: Erzählungen; E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann

Personales Erzählen

Erzählen aus der Perspektive einer Figur des Handlungszusammenhangs selbst, also

  • kein souveränes Wissen
  • keine Distanz,

sondern

  1. äußerlich: Beschränkung der Wahrnehmung auf das, was sich im Gesichtsfeld der erzählenden Figur befindet—> beschränkte Wahrnehmungsmöglichkeiten (zeitl./räuml.)
  2. innerlich: Weitterreichende Möglichkeiten in der Darstellung innerer Vorgänge als beim auktorialen Erzähler. Dieser kann zwar Gedanken und Gefühle mitteilen, jedoch nicht so subjektiv und emotional. Die Entfaltung der Innenwelt hat also gößere Bedeutung als die Darstellung der Außenwelt.

Bei Kafka reicht dies hin bis zu einer traumhaften Projektion der Innenwelt, einem Ausgeliefertsein an die subjektive Innenperspektive, die kaum mehr Bezug zur Realität hat.

Ist die personale Erzählperspektive totalisiert, sind ALLE Aussagen aus der Innenperspektive erzählt. Dies kann den Leser verwirren (vgl. Verfilmung von “Die Verwandlung”).

Kafkas personale Monoperspektive ist eine Ausnahme. Es besteht die Gefahr der Monotonie, die bei Kafka jedoch zum Kunstmittel wird: Die psychische Gefangenschaft des Ich in seiner Innenwelt wird deutlich.

Öfters trifft man gemäßigtere Formen an. Wird aus der Erlebnisperspektive verschiedener Personen erzählt, nennt man das personale Multiperspektive (z.B. Virginia Wolf).

Häufig stößt man auf Übergänge zwischen auktorialem und personalem Erzählen.

Personales Erzählen wird erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. betrieben; auktoriales Erzählen bleibt jedoch weiterhin vorhanden.

Neutrales Erzählen

weder aus der Sicht einer Figur, noch In-den-Vordergrund-Rücken des Erzählers
a) Die Figur selbst spricht in direkter Rede (wie im Drama)—> Dialoge—> bewirkt Schein der Unmittelbarkeit, Dramatisierung. Durch solches szenisches Erzählen gerät der Erzähler für den Leser aus dem Blick. Kurze Dialogeinschübe bedeuten aber nicht unbedingt neutrales Erzählen, da der Erzähler im Blick behalten wird.
b) Der Erzähler enthält sich Kommentaren und Überblickswissen; er entpuppt sich als unbeteiligt, ist fast nur dokumentierend.

Das neutrale Erzählen hat keinen so großen Stellenwert wie das auktoriale oder personale Erzählen.

Fast immer mischen sich diese drei Formen; in der Analyse stellt sich die Frage, welche Funktion der Wechsel der Erzählform hat.

Ich-Erzählung

Dieser Punkt ist in systematischer Hinsicht falsch: ein Ich-Erzähler kann sowohl auktorial (z.B. Kommentieren eines seiner Abenteuer - Münchhausen) als auch personal erzählen. Die Ich-Erzählung ist also kein Erzähltypus, der neben 1-3 gestellt werden kann. Sie hat jedoch gewisse Eigenheiten.

Der Erzähler tritt als “Ich” hervor und ist zugleich eine Person der Erzählung, gehört zur Welt der Romancharaktere. Er muß dabei nicht immer die Hauptperson sein.

  • Abenteuerroman -  Ich-Form hat Funktion der Beglaubigung
  • Briefroman seit 2. Hälfte des 18. Jh. (z.B. Werther 1774; Hölderlin: Superion), typisch für Empfindsamkeit (Selbstaussprache des gefühlshaften Ich): Subjektivität kommt ins Spiel
  • Autobiographie eigene Identität wird dargestellt; Selbstinterpretation.

B) Erzählerische Darbietungsformen der Personenrede

Definition Personenrede: alle Äußerungen, die einer Handlungsfigur entspringen; im engeren Sinn also direkte und indirekte Rede. Bezeichnendes Element sind die Inquit-Formeln, z.B. “...sagte sie ...”, “... er meinte ...” Sie sind typisch für auktoriale Vermittlung. Während sie im Dialog wegfallen können, erfordert die indirekte Rede immer eine Inquit-Formel. Sie lässt sich besser in den Erzählfluss integrieren.

Direkte Rede ist stets unmittelbarer, während die indirekte Rede alle Aussagen in den Konjunktiv und die 3. Person verschiebt; es entsteht der Eindruck einer stärkeren Distanz des Erzählers zum Erzählten, die Äußerungen der Protagonisten erscheinen relativiert:

Er sagte: Ich bin gestern angekommen.
Er sagte, er sei gestern angekommen.

Indirekte Rede bewirkt auch eine stärkere Distanz des Lesers, der nicht direkt konfrontiert wird.

Direkte und indirekte Rede zählen zu den alten Darstellungsmitteln. Seit 1850 unterscheidet man (nach Vorformen) den Inneren Monolog und die Erlebte Rede. Sie sind die wesentlichen Formen personalen Erzählens.

Innerer Monolog

Der Innere Monolog ist nicht zu verwechseln mit dem Gedankenbericht (mit Formeln wie “...dachte er…” markiert).

Der Innere Monolog ist eine Art stummer Monolog, ohne Hörer. Steht immer in der Ich-Form und im Präsens. Der Innere Monolog gibt innere Bewußtseinsvorgänge wieder und führt in die Innenwelt des Protagonisten ein. Die Sprache des Ich wird von rationalen Steuerungen losgelöst, wird unlogisch und emotional. Extreme Form: Bewusstseinstraum.

Funktionen des Inneren Monologs

  1. erzeugt größtmögliche Unmittelbarkeit (Erzähler steht nicht mehr zwischen Romanfigur und Leser)—> nicht auktorial
  2. Repräsentation des Inneren einer Person, was in der Wirklichkeit nicht vorkommt (Intimsphäre !), z.B. Assoziationen, Gefühle usw. Freud sieht den Inneren Monolog als Mittel, die Dinge, die das Subjekt nicht einmal sich selbst eingestehen will, darzustellen.

Im 20. Jh. wird der Innere Monolog zum zentralen Element:

  • Joyce: Schlußmonolog Ulysses (40 Seiten) - eine Orgie des Inneren Monologs
  • Proust: Innerer Monolog wird zum Dauermonolog des Erzählers
  • Döblin: Berlin Alexanderplatz
  • Broch: Tod des Vergil

Lektüre: Arthur Schnitzler: Leutnant Gustel (1901); Fräulein Else (1924)

Übergangsformen
z.B. Selbstgespräch - hat meist dialogische Struktur; das Ich steht sich selbst als Du gegenüber (“Wie konntest Du das nur tun ?”; z.B. Kafka: Verwandlung)

Erlebte Rede

ist das wichtigste Kunstmittel der Moderne.
Merkmale der Erlebten Rede:

  • Indikativ 3.Person
  • episches Präteritum (meistens; hat keine zeitanzeigende Funktion (“atemporal”)) (z.B. Buddenbrooks)
  • Wechsel zwischen direkter und indirekter Rede:
    ”[...] Der Konsul ging erregt hin und her. Er war bei Gott überhäuft. Sollte sie doch warten! [...]”

    Der Autor “steigt in den Erzähler hinein”.
  • gibt die Vorgänge im Bewusstsein einer Person wieder. Manchmal ist die Erlebte Rede schwierig vom Erzählerbericht zu trennen. Die Aussageformen und -inhalte der Erlebten Rede sind im Erzählerbericht schwer vorstellbar (Obsession, Reflexion usw.). Hinweise: deiktische, argumentative, affektive.

Wie der Innere Monolog zählt die Erlebte Rede zum personalen Erzählen; der Autor lässt den Erzähler aus der auktorialen Außenperspektive in die intensivierende Innenwelt einer Handlungsfigur eintauchen (z.B. Thomas Mann, Kafka).

C) Bauformen des Erzählens

Leitmotiv

Begriff aus der Musik,1871 erstmals auf Wagners Opern angewandt
einprägsame, immer wiederkehrende Aussage (oder nur ein Wort)

Funktionen des Leitmotivs:

  1. Herstellung eines sinnstiftenden Kontinuums (d.h., die Erzählung wird zusammengehalten); die übergeordnete Bedeutung des Wesentlichen kann besser gedeutet werden, das Leitmotiv dient als Leitfaden, als “roter Faden”
  2. Relativierung verschiedener Erzählphasen (markiert etwas Gleichbleibendes (bei leichter Veränderung)) - v.a. bei Thomas Mann: Der kleine Herr Freidemann; Tod in Venedig (mehrere Leitmotive—> übergeordnete Bedeutungskontinua entstehen)

Leitmotive finden sich auch in Lyrik oder Dramatik, z.B. Schiller: Wallenstein.

zeitliche Ordnung

:

  • linear = chronologisch
  • epische Rückwendung : Der Erzähler greift zeitlich zurück, schildert die Vorgeschichte (“Rückblende”). Die epische Rückwendung ist in jeder Phase des Handlungsverlaufs möglich:
    • neu auftretende Personen können mit einer Vorgeschichte versehen werden, oder als eingeschobener Rückblick (Reflexionen des Protagonisten o.ä.)
    • klassisches Mittel zur Eröffnung einer Erz./eines Romans (aufbauende Rückwendung)
    • kurz vor Ende werden verdeckte Zusammenhänge ans Licht gebracht (z.B. Krimi: auflösende Rückwendung)
  • Vorausdeutungen (in die Zukunft): spielen große Rolle schon in Antike und Mittelalter: Odyssee; Nibelungenlied (Vordeutungen auf ein böses Ende: Frauentraum usw.), Parzival (12. Jh.)). Auch im Märchen.
    Novalis: Heinrich von Ofterdingen

    z.B.

    • Erzählung einer Vorgeschichte mit antizipatorischer Funktion (z.B. E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann). Diese Art der Vorausdeutung hat oft nicht den Charakter einer Vorgeschichte, sondern ist z.B. eine einfache Schilderung des Milieus, was Rückschlüsse auf die (noch einzuführende) Hauptperson zulässt: prognostischer Charakter (z.B. Thomas Mann: Felix Krull)
    • im Innern des Romans: Vorausdeutungen perspektivieren die Lektüre, stärken die Wahrnehmung von Kontinuitäten.

zeitliche Gestaltung

  1. Phasenbildung: innere Strukturierung des Geschehens durch Tempora
  2. Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit: sie decken sich selten, nur in szenischen Darstellungen. Meist sind sie nicht kongruent:
    • Zeitdehnung: Überschreitung der erzählten Zeit durch Erzählzeit (z.B. Joyce: Ulysses: 24 Stunden werden auf 10000 Seiten beschrieben; z.B. beim Inneren Monolog; Träume)
    • Zeitraffung: Unterschreitung der erzählten Zeit durch Erzählzeit (wichtiger).
      Methoden der erzählerischen Verkürzung (=Raffung):
      • Aussparung (“einige Zeit später”, “5 Jahre danach”)
      • sukzessive Raffung = Aufreihung von Begebenheiten (“dann…und dann…danach…”) - hohe Raffungsintensität: dramatisierende Funktion vs. geringe Raffungsintensität: Angaben der Fortschreitung liegen weit auseinander
      • iterative Raffung (“Wiederholung”) = großer Zeitraum wird zusammengefasst (“immer wieder in dieser Zeit…”—> Pauschalisierung); einzelne, sich wiederholende Begebenheiten werden zusammengerafft, auch bei der
      • durativen Raffung (“die ganze Zeit hindurch…”) = Angabe einer Dauer; Dinge, die andauern, werden gerafft.

      Die 3 Raffungsarten treten meist kombiniert auf.


D) Erzählerische Formen

Kleine Erzählerische Formen

= Novelle, Märchen, Kurzgeschichte, Legende, Sage usw.

Novelle

urspr. juristisch: “nachträglich ergänzend”, “erweiternd” (novella lex=nachträgliches Gesetz); novella (ital.)=“Neuigkeit”)

wird seit der Renaissance zum literarischen Begriff; der Titel impliziert das Versprechen an den Leser, etwas noch nie Gehörtes, gar Unerhörtes zu bieten.

Die Novelle ist stets

  • ereignishaft
  • neu

Gegensatz der Novelle zum Roman

  • einsträngige, meist straff geführte Handlung
  • wenig Hauptakteure
  • keine ausführliche Schilderung
  • keine psychischen Zustände
  • konzentriert, knapp
  • scharf umrissenes Geschehen
  • eingängige Handlung (z.B. ein einziger Konflikt)
  • anderes Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit (zeitliche Markierungen sind dichter aufeinander)

Gegensatz zu Kurzgeschichte

  • die Kurzgeschichte ist nicht auf das Neue, Unerhörte angelegt
  • Novelle kann skizzenhaft sein, braucht Handlungsphasen nicht differenziert zu entfalten
  • schärfer pointiert

Die Gattungstheorie ist hier unbrauchbar (??); bei Kleist findet sich z.B. exzessive Dramatik, Eichendorffs Novellen hingegen sind äußerst undramatisch.

Geschichte der Novelle

Herodot lagert in seine Geschichtsdarstellung unterhaltsame Novellen ein (6. Jh. v. Chr.); erst seit der italienischen Renaissance gibt es eine bewusste, eigenständige Novellendichtung. Das Ur- und Vorbild aller europäischen Novellensammlungen ist das Decamerone von Giovanni Boccaccio (1350). Es handelt sich um eine Sammlung zyklischen Charakters, die in einen Rahmen eingebettet ist.

Rahmenhandlung: Eine Gesellschaft einigt sich, sich durch Erzählungen zu unterhalten; die Erzählkunst hat zu erheitern und zu erfreuen [Horaz: prodesse & delectare (nützen & erfreuen)] (höfisch stilisierter Rahmen). So finden sich insgesamt 100 Novellen; 10 Tage lang werden jeweils 10 erzählt (zyklischer Charakter). Doch die Novellen sind nicht technisch durchorganisiert wie die moderneren [Ausnahmen z.B. 3. Novelle 1. Tag (Ringparabel -> Grundlage für “Nathan”); 9. Novelle 5. Tag (Falkennovelle)]; sie sind unpsychologisch und von ihrer Handlung dominiert.

Mit Petrarca und Dante bildet Boccaccio die “Dreierspitze” des 14. Jh.. Seine Novellensammlung beeinflußt u.a. Geoffrey Chaucer (Canterbury Tales), Margarethe v. Navara (Heptameron), Cervantes (Novelas ejemplares).

Im deutschsprachigen Raum ist Novellendichtung erst seit Ende des 18. Jh. zu finden; zuvor gab es nur Wielands Versnovellen. Dann: Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter (1795), die sich stark an Boccaccio orientieren. Mit Kleists Novellen begann eine explosionsartige Vermehrung der Novellendichtung [zur gleichen Zeit auch in Frankreich, Russland (Gogol, Turgenjew, Tschechow,
Dostojewski)]:
E.T.A. Hoffmann: Nachtstücke; Phantasiestücke; Serapionsbrüder [ebenfalls Zyklen, wo zwischen den Geschichten über das Erzählte diskutiert wird]
Tieck; Eichendorff; Stifter; Gottfried Keller; C.F. Meyer

Unterschiede zwischen älteren Novellen in der Tradition Boccaccios und Novellen des 19.Jh.
 ältere NovelleNovelle des 19. Jh.
äußere Handlung: Ereignishaftes dominiert psychologische Vertiefung des Geschehens und der Gestalten (z.B. Kleist: Marquise von O.; Hoffmann: Der Sandmann [darauf basiert übrigens Freuds Theorie des Narzissmus]; Büchner: Lenz (psychopathologische Novelle);
Grillparzer; Stifter; Keller), also eine differenziertere, individuellere Personengestaltung
dreht sich immer nur um die Situationen der Handelnden, bleibt immer am Vordergrund die geschichtliche Situation wird miteinbezogen, also Reflexion geschichtlicher und gesellschaftlicher Bedingungen, bis hin zur Gesellschaftskritik
konzentriert sich auf HauptgestaltenElemente aus der Umwelt der Protagonisten werden aufgenommen (z.B. Natureindrücke,
Details der beruflichen Umwelt usw.)
drastische, burleske Erotik Die Bürgerlichkeit untergräbt diese Erotik

Die Novelle des 19. Jh. ist umfangreicher, ausgebauter und hat einen weiterreichenden literarischen Anspruch.

Auswahl der wichtigsten Novellen
  • Kleist: Das Erdbeben in Chili (1807)
  • Die Marquise von O. [diese beiden sind Musterstücke für die dramatische Novelle]
  • Michael Kohlhaas (1810) [fast zu groß für eine Novelle]
  • E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann (1815); Das Fräulein von Scuderi (1818)
  • Eichendorff: Der Taugenichts (1826)
  • Büchner: Lenz (1835)
  • Grillparzer: Der arme Spielmann (1848)
  • Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag (1855)
  • Stifter: Brigitta (1843); Bergkristall (1853)
  • G. Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe (1856); Kleider machen Leute

Wollte jemand all diese Novellen strukturieren, müsste er sie z.B. historisch oder nach Problemperspektiven ordnen. Auch Anderes wäre denkbar.

Das Märchen

Verkleinerung v. “Märe” (mittelalterl.) = Kunde, Bericht, Erzählung; urspr. mündliches Erzählgut, nicht explizit für Kinder!
Die drei berühmtesten Märchensammlungen sind

  • 1001 Nacht - mehr als 300 Märchen, Fabeln, Gedichte, Geschichten in 6 Bänden; die erotischen Geschichten fehlen bei den Ausgaben für Kinder meist völlig. Grundstock: indische Sammlung des 8. Jh. (“1000 Nächte”). Die Berühmtesten: Sindbad der Seefahrer, Aladin und die Wunderlampe, Ali Baba und die 40 Räuber
  • Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm - Neben der Bibel das meistverbreiteste Buch der Welt (!), 60 Sprachen. Band 1:1812; Band 2:1815
  • Hans Christian Andersen

Die Romantik kultiviert die Märchen, da sie als poetischste Gattung angesehen werden. Besonders gefällt die Abhebung von der Wirklichkeit und dem Grundsatz der Wahrscheinlichkeit. Denn die Romantiker lieben die “autonome Phantasie”, das Unmögliche, das Antirealistische.
Autoren: Novalis; Tieck; E.T.A. Hoffmann (Der goldene Topf); Brentano (Rheinmärchen; Italienische Märchen); Hauff; Bechstein

Nach der Romantik werden kaum noch Märchen publiziert.

Kunstmärchen vs. Volksmärchen

Man unterscheidet Kunstmärchen (von Dichtern) und Volksmärchen (aus mündlicher Überlieferung). Grimms Märchen sind Volksmärchen; sie gründen auf einen romantisch verklärten Volksbegriff, der “Urpoesie” (im Anschluss an Herder [vgl. Herders “Naturpoesie” (entspricht der romantischen Ideologie)]). Den Grundstock bilden mündliche Überlieferungen des hessischen Bürgertums, ebenso literarische Quellen des Mittelalters und des 16.-18.Jh. Nicht alles sind Märchen (auch Schwänke usw.).
Die Märchensammlung entstand durch bewusste Literarisierung und Stilisierung:

  1. Ölenberger Urfassung von Jacob Grimm (als Stenogramm)
  2. weitere Ausgestaltung von Wilhelm Grimm, die von Auflage zu Auflage immer besser wird (bis zur Endfassung 1858). Seit der 2. Aufl. 1819 wurde die Sammlung gezielt als Kinderbuch bearbeitet; gemüthafte, biedermeierliche Familienkultur ist Stilisierungsziel. Dies sind die Hauptursachen für den riesigen Erfolg.
Typischer Stil des europäischen Volksmärchens (nach Max Lüthi)
  • einfache, linear voranschreitende Handlung
  • Hauptträger ist ein deutlich abgehobener Held (oft Namensgeber)
  • die wenigen Nebenfiguren haben kein Eigenleben, sondern erfüllen auf die Hauptfigur gerichtete Funktionen (der Helfer, der Neider, der Gegner - typisiert)
  • alles ist scharf und eindeutig konturiert (Opposition: gut-böse, schön-hässlich)
  • Kontraste zur realen Welt (Hexen, vergiftete Äpfel)
  • Die Dinge sind immer eindeutig und scharf umrissen, ebenso die Farben, Formen, Materialien (Metaphern ! (z.B. “Schneewittchen”)). Dadurch wird der Märchenstil etwas abstrakt, denn normale Eigenschaften fehlen. Diese scharfe Markierung trifft auch auf Zahlen zu (3,7,100), auch auf die Handlungsebene (wer die Aufgabe nicht löst, wird umgehend enthauptet). Alles ist klar und entschieden.
  • Markante Merkverse

Große Formen

Epos (griechisch: “Erzählung”)

ist in Versen geschrieben und bewegt sich (so auch) in abgehobenen Sphären. Während im Roman die menschliche Durchschnittssphäre betrieben wird, sind die Hauptgestalten im Epos übernatürliche Helden. Es wendet sich an ein aristokratisches, kultiviertes Publikum (Unterhaltung; Repräsentation gesellschaftlicher Ideale) und präsentiert Götter- und Heldensagen. Das Tun des Helden ist durch Ehre bestimmt—> Bezug auf ritterliche Oberschicht (Tafelfreuden, Kampf, Jagd, Auftritte des Sängers).

Theorie zur Entstehung des Epos

Vorgänger: alte Heldenlieder. Im 18. Jh. dachte man an die Aneinanderreihung vieler Lieder (z.B. Homers Epen), und man entwickelte im 19. Jh. eine “philologische Jagdleidenschaft” nach Fugen zwischen den Liedern (z.B. für Nibelungenlied); Grimm, Lachmann
1905 formulierte Andreas Heusler seine Gegenthese: Die alten Heldenlieder sind nur die Quellen, nicht die unmittelbaren Bausteine; denn die Erzählweise ist beim Heldenlied liedhaft knapp, beim Epos jedoch von epischer Breite, ausmalend.

Epischer Stil

[anhand Homers Epen (Ilias, Odysse (8.Jh.v.Chr.))]

  • Formelhafte Elemente
    1. stehendes Beiwort für Personen und Dinge (Odysseus ist “listig”, die Göttermutter Hera “lilienhaft”)—> schmückender Charakter EPITHETON ORNANS
    2. feststehende Formeln für den Beginn und das Ende von Reden, Abläufen (Kämpfe usw.)
    3. typische Szenen (Zweikampf, Mal, Opfer, Rüstung, Ausfahrt des Schiffes) durch wörtliche Wiederholung. Gründe:
      • technisch: formelhafte Elemente sind Fertigbauteile
      • substanziell: rituelle, archaische Ordnung, wo alles seinen festen Platz hat
    4. groß angelegte, weit ausladende Gleichnisse, die ein Eigenleben gewinnen
    5. Geschehen ist episodisch aufgelockert und nicht auf die Haupthandlung reduziert; der Epiker hat Zeit zum Verweilen, ist nicht auf Spannung aus. Deshalb werden Gegenstände detailgenau und mit Liebe geschildert (Ehebett des Odysseus, Szepter des Agamemnon -> Ausmalen von Einzelheiten hat atmosphärische Wirkung -> Alles, Menschen und Dinge, wird plastisch und deutlich, anschaulich
  • Figuren

    sind nicht individuell, sondern Typen, also fest geprägt, rollenhaft fixiert (alter Ratgeber, treuer Freund, Sänger, treue Frau usw.). Diese Rolleneigenschaften sind unveränderliche Wesenseigenschaften, die sich nicht ändern (typenhafte Fixierung)

Lektüre: Homer: Odysseus, Versübersetzung v. Voss in Hexametern (ca. 1800), Prosa von Wolfgang Schadewaldt; Nibelungenlied

Roman

Werke in der Vulgärsprache waren afrz. “romanz”; aus dieser sprachl. Charakterisierung wurde eine Gattungsbezeichnung. In Deutschland gibt des “Roman” im heutigen Sinne seit dem 17.Jh. Seit Anfang des 19.Jh. hat der Roman sich von allen Fixierungen gelöst; wegen der vollkommen freien Gestaltungsmöglichkeiten ist eine genaue Definition eigentlich unmöglich.

Im Mittelalter war der Roman z.T. noch in Versform (Eschenbach: Parzival; Tristan & Isolde (12.Jh.)). Im Spätittelalter dann Prosaauflösung dieser Versromane. Bis ins 18. Jh. war der Roman der “illegitime Bruder des Epos” (da die traditionelle Gattungspoetik weiter zurückgreift); man war gegen ihn, da er wegen seiner Liebesabenteuer als “Ablenkung vom wahren Heil” gesehen wurde [Der Roman hatte starke Gegner z.B. unter den Calvinisten, die auch gegen das Theater eingestellt waren.]. Man sprach vom “Lügencharakter” des Romans.

Das erste romantheoretische Werk verfasste Pierre Huet 1670: “Abhandlung über den Ursprung des Romans” (1782 dt.). Es war gleichzeitig die erste Abhandlung, die für die Anerkennung des Romans plädierte. Es vollzog die Abgrenzung vom Epos (das Liebessachen nur gelegentlich, Kriegs- und Staatsdinge jedoch ständig behandelt) und postulierte: “Der Roman hat die Liebe zum zentralen Objekt”.

Grundprobleme des frühneuzeitlichen Romans: mangelnde Realitätsbezogenheit, wirre Phantastik, denn durch die Prosaauflösungen im Spätmittelalter hatten die (märchenhaften) Ritterromane wie ihre Vorbilder phantastische Züge; der Amadis-Roman prägt die Vorstellung vom Roman als etwas Unwahrscheinlichem, Realitätsfremdem. Denn der Amadis-Roman (Montalvo; Amadis de Gaula [Amadis v. Gallien]) war zu weit von allen Erfahrungsbereichen des Menschen entfernt, als dass er Identifikationen erlaubt hätte.

Schelmenroman

Doch dann kam als Gegenpol zum Ritterroman der Schelmenroman [span.: novela picaresca. “Schelm” = urspr. Kadaver, Aas; später = Schimpfwort für Betrüger, Dieb, Verräter usw.; im 19.Jh. erst heutige Bedeutung von lose, neckisch usw.—> Roman über einen Betrüger] als “Gegenschlag realistischer Desillusionierung”. Die Hauptperson ist ein Antiheld niederster Abstammung, charakterlos, eine Mischung aus Landstreicher und Gelegenheitsdieb. Er schlägt sich armselig durch eine Welt des Lasters und der Armut. Es geht ihm nur um die Fristung seiner armseligen Existenz: “Das Fressen kommt vor der Moral”.

Der Schelm ist Produkt einer schlimmen Umwelt, der nur leben kann, wenn er mit den Wölfen heult; er ist ein passiv Duldender -> realistisch-pragmatische Haltung.

Während also der Ritterroman sich an das Epos anlehnt und die alten Werte übernimmt, zieht der Schelmenroman ihn in den Dreck, kehrt das Positive ironisch um (Standesstolz, ewiger Sieg der Gerechtigkeit, das Gute usw.)

Erster Roman: Lazarillo de Tormes 1554 (anonym): episodenhaft; zentraler Begriff: desengaño (“Enttäuschung”)—-> desillusionierende Erkenntnis der Bosheit der Welt.

Im Gefolge entstehen vielerlei Schelmenromane nach Art des Amadis:

  • Grimmelshausen: Simplicius Simplicissimus
  • Thomas Mann: Felix Krull
  • Günter Grass: Die Blechtrommel

Don Quijote
Nicht ganz so extrem ist Cervantes “Don Quijote” (1605/15). Cervantes wollte ursprünglich das Unsinnige des Ritterromans darlegen: Don Quijote ist benebelt von den unwirklichen Ritterromanen und imitiert diese. Doch seine hohen Ideale bringen ihn ständig in Konflikt mit der Realität. Im Gegensatz zum normalen Schelm wird er aber aus dem Schaden nie klug, erfährt nie das desengaño. Cervantes geht jedoch über sein Ziel, eine einfache Parodie zu schreiben, hinaus: er unterschiebt Don Quijote hohe Ideale und erreicht eine Ambivalenz aus Komik und Tragik: lächerlich groteske Realitätsverfehlung vs. Drang zu einer höheren, idealeren Form des Menschseins.

Wegen diesem Drang hängt Sancho Pansa so sehr an ihm; er, der Realist, bildet den Gegenpart zum idealistischen Don Quijote; v.a. in der Romantik wurde diese Spannung sehr geschätzt (Übersetzung v. Tieck).

Bürgerlicher Roman

“Don Quijote” ist also eine Verquickung beider Dimensionen, der ritterlichen und der schelmischen. Der barock-höfische Roman des 17.Jh. geht Ende des 18. Jh. in den bürgerlichen Roman [zu diesem Zeitpunkt auch Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels] über; die höfisch repräsentative Öffentlichkeit wird zur bürgerlichen Privatheit. In dieser Epoche der Aufklärung und Empfindsamkeit entwickelten sich das Bürgertum und die bürgerlichen Lesegesellschaften; die bürgerlichen Romanhelden wurden nun als Identifikationsfiguren erwartet.

Es ergab sich folgender Wandel: [Tendenz in der Aufklärung: - Gebot der Wahrscheinlichkeit wird dringender; - vereinfachte Handlungsstrukturen]

  1. Die Polarisierung typisierter Figuren tritt zurück zugunsten einer Erfahrungsnormalität (Angleichung an die bürgerl. Erfahrungswelt)—> das Extreme verschwindet
  2. An den Personen treten individualisierende Züge hervor (obwohl Typisierungen noch lange von Bedeutung sind)
  3. -> So erhalten die Figuren zum ersten Male ein ausgeprägtes Innenleben: Psychologisierung; sie machen innere, empfindende Erfahrungen
  4. Die Struktur des Geschehens wird durch innere Impulse motiviert. Es entsteht eine Kohärenz, die sich an der psychischen Individualität der Hauptfigur orientiert.—> Homogenität
Briefroman

Entstehung des Briefromans: Entstehung in England: Samuel Richardson: Pamela (1740); Clarissa (1747/8); Sir Charles Grandison (1753). Dann Rousseau: La nouvelle Héloise (1759) - Natur als Medium und Stimulanz der Gefühlserregung
Neu entsteht der Briefroman (gesamteuropäisch) während der Empfindsamkeit (1750-1800); diese Epoche zeigt die Tendenz zur Kultivierung und Intensivierung des Gefühlslebens, zur Subjektivierung des Erlebens. In dieser Zeit werden fast alle Romane zur Gefühlsaussprache benutzt; vor allem der Briefroman eignet sich wunderbar als Medium gefühlshafter Aussprache.

Mit dem Werther (1774) begründete sich Goethes Ruhm; es handelt sich um einen einseitigen Briefroman (nur ein Schreiber, vs. mehrseitiger Briefroman); es findet also keine intersubjektive Kommunikation statt, nur Monologie.

Werther stellt den Höhepunkt der Subjektivierung bzw. des Subjektivismus des 18.Jh. dar; er trifft ins Zentrum der Epoche. Der zweite Höhepunkt (und zugleich Ende des Briefromans) ist Hölderlin: Hyperion (2 Bde. 1797/9). Die Empfindsamkeit wirkt noch, doch der Sturm und Drang beendet den Kult des Unmittelbaren (Werther schreibt immer aus dem Unmittelbaren, spontan), des Spontanen (-> Geniezeit): Hyperion liefert reflektierende Rückblicke an längst Vergangenes:

Spontaneität vs. Reflexion (neues Bewusstsein in der Zeit des deutschen Idealismus)

Bildungsroman

Vor allem in Deutschland kommt in der zweiten Hälfte des 18. Jh. der Bildungsroman auf; er zeichnet das Hineinwachsen eines Menschen in die Realität, die Ausbildung einer eigenen Lebensform. Dabei stehen nicht nur positive Konzepte da, auch negative/skeptische (Prozess der Desillusionierung). Der Bildungsroman ist im Gegensatz zum Gesellschaftsroman auf das Individuum und seinen Bildungsgang angelegt.

  • Wieland: Agathon (1766/7)
  • Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1796)
  • Stifter: Nachsommer
  • G. Keller: Der grüne Heinrich (beide Mitte 19.Jh.)

Bildung und Individualität: Bildung hat bis ins 18.Jh. ausschließlich religiöse Bedeutung: Umgestaltung des mit der Erbsünde belasteten Menschen; Bildung nach Gottes Bild. Mitte des 18. Jh. folgt jedoch die Säkularisierung dieses Begriffs: Bildung ist nun Gestaltung, die ein Mensch durch Menschen und Welt erfährt -> er wird für die Welt gebildet. Der Bildungsbegriff wird nun immanent verstanden:

  1. Anbildung von äußeren Einflüssen, zugleich
  2. Ausbildung der inneren Anlagen [Die Erziehung ist ein zentrales Konzept der Aufklärung (Bildung des Verstandes, der Ratio—> Vorstellung des freien Individuums (vs. Normen der ständischen Gesellschaft)

Der Bildungsroman sucht den Ausgleich dieser zwei Punkte:

  • Erziehung = von außen gesteuert, vs.
  • Entwicklung = Entfaltung einer vorhandenen Anlage (von innen gesteuert)

Bildung ist also Synthese von Innerem und Äußerem - ein ganzheitliches, “organologisches” (Herder) Denken mit Orientierung am zeitgenössischen Individualitätsdenken.

Der Bildungsbegriff unterliegt dabei einem Wandel:

  • emanzipatorisch (Individuum hat ein Stück Autonomie gegenüber den Normen)
  • ab 1793 eskapistische Züge (wegen politischer Machtlosigkeit - Französische Revolution!)
  • Besitzbürgertum vs. Bildungsbürgertum (ästhetischer Bildungsbegriff)
  • Im 19. Jh. verkommt Bildung zum Etikett höherer Stände

vgl. Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner, Werner Konce und Reinhart Koselleck; Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter

Das integrierende Schema des Bildungsromans stellt immer eine Lebensgeschichte dar, die einen inneren Zusammenhang aufweisen muss (um psychologische Schlüssigkeit zu erzielen). So scheint die Romangattung eine Berechtigung zu erhalten (vorherige Kritik: Roman beschäftigt sich mit äußeren Dingen, sei wirre Phantastik). Der Grad der Selbstbestimmung und Fremdbestimmung kann dabei variieren: der Bildungsprozess kann ein Irrweg oder gar ein Verbildungsprozess (Der grüne Heinrich) sein.

Gesellschaftsroman

In der zweiten Hälfte des 19. Jh. (Realismus) entsteht der Gesellschaftsroman. Nicht mehr der Einzelne ist Hauptsujet, sondern die Gesellschaft. Der Einzelne ist nun Repräsentant seiner Klasse. Der Spielraum für die Entfaltung individueller Eigendynamik ist somit stark geschrumpft; gesellschaftliche Verhältnisse und Normen sind nun bestimmendes Element:

Individualroman vs. Gesellschaftsroman

3 Hauptdimensionen:

  1. Gesellschaftliche Verhältnisse
  2. Gesellschaftlich geprägte Verhaltens- und Denkweisen (Konventionen)
  3. Gestalten, die sich geistig und ethisch über die gesellschaftlichen Verhältnisse erheben, denen sie unterworfen sind.

Hauptvertreter dieser Gattung ist Theodor Fontane (Irrungen, Wirrungen; Effi Briest)

Merkmale Fontanes Realismus:

  • Differenzierte Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit
  • Darstellung der verschiedenen Milieus
  • Menschen sind nichts besonderes, sondern eher Durchschnittsmenschen, die sich anpassen, da sie erkennen, dass das Gesellschaftssystem sie bestimmt—> realistisches Verhalten
  • weit gehende Relativierung aller Phänomene und Figuren, also Darstellung ihrer Bedingtheit und ihrer Grenzen
  • formal: Viele Gespräche (strukturbildend: kummunikative Funktion; Selbstcharakterisierung der Sprecher)

Im Gegensatz zu Fontanes Realismus ist der französische Realismus wesentlich härter, entschieden desillusionierend:

  • Balzac: Verlorene Illusionen (1837-44)
  • Flaubert: Madame Bovary (1857)

Das desillusionierende Element zeigt sich besonders bei Madame Bovary: Der Stoff ist begrenzt und absichtlich banal. Vorbild für den Roman war ein realer Vorfall, den Flaubert in der Zeitung gelesen hatte. Emma ist eine banale Person in einem langweiligen Dasein; das reale Dasein erzeugt kompensatorische, romantische Phantasien, die das Leben zerstören (Eskapismus durch Kitsch, Vordergründigkeit)—> antiromantische Struktur des Realismus (wie auch in Deutschland (Gottfried Keller)). Sie hat ihre Vorstellungen aus romantischen Romanen; Flaubert gibt so programmatisch zu erkennen, was sein Roman nicht sein soll.

Für ihn ist die Realität trist und medioker; dies zeigt er am Beispiel einer provinziellen Durchschnittsexistenz, die sich über diese auswegslose Wirklichkeit hinwegsetzen will.

Flaubert stellt die Wirklichkeit bloß; er “führt die Feder wie ein Skalpell”, mit medizinischer Exaktheit; nichts wird beschönigt oder verhüllt -> dieser konsequente Realismus Flauberts führt zu Desillusionierung und Enttäuschung (ähnlich: Lehrjahre des Herzens).

Auflösung des bürgerlichen Romans im Naturalismus

Der Naturalismus scheint zuerst wie eine Verschärfung des Realismus; es zeigt sich jedoch eine neue Grundperspektive, die Realität der sozialen Not in den untersten Schichten. Der Mensch ist nicht mehr überwiegend den bürgerlichen Wertungshorizonten unterworfen, sondern fremdbestimmt, determiniert, Opfer der sozialen Verhältnisse. Wendung nach dem Tod Hegels und Goethes um 1830 vom Idealismus zum Realismus, von Spekulation zu realistischer Beobachtung und Analyse, vom Religiösen und Metaphysischen (romant.) zum wissenschaftlichen Positivismus (=lässt nur das Gegebene, die “positiven Tatsachen” gelten); diese Position wird immer schärfer. Damit einhergehend ist eine markante Ideologiekritik an vorangegangenen Epochen (v.a. Romantik), die Destruktion aller religiösen und metaphysischen Dimensionen (<-Industrialisierung; Aufkommen der Naturwissenschaften).

Die deutsche Literatur hat kaum naturalistische Romane hervorgebracht [außer z.B. Dramen v. Gerhart Hauptmann]. In Frankreich dagegen glänzte Emile Zola: Erbgut, Umwelt und Zeit bestimmen den Einzelnen. Der Gesamtablauf ergibt sich zwingend durch diese Determiniertheit (“Determinismus bei Zola”). Die Romangestaltung lässt dem Individuellen so keinerlei Spielraum. Roman des Naturalismus vs. Roman des Realismus Darstellung der Wirklichkeit: - Realismus: mittleres Niveau der Darstellung - Naturalismus: niedriges Niveau (negative Wirklichkeit) <- Not der im 19. Jh. ausgebeuteten Industriearbeiter z.B. Zola: Germinal Naturalismus: trifft nicht nur negative Selektion, sondern hat auch soziales Engagement poetischer Realismus bei Fontane: versöhnende Relativierung, immer wird etwas Gutes gefunden [Tendenz zur Verklärung (im Gegensatz zur russischen und französischen Literatur); Fontane findet Zolas Schreiberei “niedrig”, zu hässlich)]. französischer Realismus: für Flaubert ist Wirklichkeit nicht sozial bedrängend; er ist vielmehr angewiderter Ästhet.

Moderner Roman des 20.Jh.

Deuschland und Österreich sind im 20. Jahrhundert geprägt vom Ersten Weltkrieg, der nationalsozialistischen Herrschaft und dem Zweiten Weltkrieg. Diese geschichtliche Katastrophen werfen die Frage auf, wie es dazu kommen konnte. Diese Frage zieht sich als Grundmotiv durch das Jahrhundert. Es kommt zu einer umfassenden Zeitdiagnose. Vor allem die deutsche und österreichische Literatur bringt Epochenromane hervor:

  • Heinrich Mann: Der Untertan (Diagnose des wilhelminischen Deutschland)
  • Thomas Mann: Der Zauberberg (Vorabend des Zweiten Weltkriegs); Doktor Faustus (1947) (NS und 1945 in der Gesamtheit der deutschen Geschichte)
  • Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Analyse der geistigen, kulturellen, psychosozialen Verhältnisse Österreichs vor dem Ersten Weltkrieg)
  • Joseph Roth: Radetzkymarsch (1932)
  • Hermann Broch: Die Schlafwandler
Zwei Hauptmerkmale des Epochenromans

vs. speziellere Zeitromane (Kriegsroman; DDR-Roman)

  1. Es wird ein umfassendes Gesamtbild der Epoche, ihrer Voraussetzungen und Grundtendenzen entworfen (zumindest ansatzweise)
  2. Konzeption als Geschichtsroman; Wesen und tiefere Gründe sollen erfasst werden, nicht der äußere Ablauf des geschichtlichen Geschehens. Die Gestalten werden figurenhaft, Repräsentanten zeitgeschichtlicher Strömungen und geschichtlicher Befindlichkeiten. Ihr Lebenslauf repräsentiert den geschichtlichen Prozess selbst.

—> Grundzug zur Vergeschichtlichung, Aufarbeitung (exemplarische Aufarbeitungen an einzelnen Figuren). Das Erzählklima wird erheblich kälter und intellektueller, denn es geht mehr um Allgemeines als um Persönliches, mehr um Analyse und Diagnose als um persönliches Erlebnis.

Erzählerische Innovationen

Heinrich und Thomas Mann z.B. folgen den konventionellen Erzähltraditionen; Thomas Mann hat deshalb ein größeres Publikum als z.B. Proust, Joyce, Musil, Döblin, Kafka, Bachmann, Uwe Johnson usw. Die stilistischen und strukturellen Neuerungen wurzeln in einer neuen Erfahrung und Interpretation von Mensch und Welt. Der Mensch wird wieder zum Subjekt, komplexer als je zuvor; er ist instabil, inkonsistent und diffus (nicht mehr souverän). Er ist nicht mehr durch seinen Geist, Willen und sein Streben bestimmt, sondern aus der Tiefe des Unbewussten gesteuert (Freud); Erinnerungen, Reflexionen, Assoziationen machen das Subjekt vielschichtig, mehrdimensional, labyrinthisch. Die Folge ist der Zerfall der Wirklichkeit, denn die moderne Wirklichkeit ist chaotisch (die Großstadt ist ein Inbegriff dieser modernen Welt, z.B. John Dos Passos: Manhattan Transfer); es entsteht eine künstlich arrangierte Ersatzwirklichkeit.

Neuerungen
  1. Erzählen im zeitlichen Nacheinander (wie im konventionellen Roman) wird oft durch ein zeitliches Nebeneinander verschiedener Sphären ersetzt (Simultaneität); die Komplexität moderner Wirklichkeitserfahrung wird so erzählerisch dargestellt.
  2. Diskontinuierliche Erzählweise: Elemente aus verschiedenen Bereichen werden vermischt -> Montagetechnik (Dos Passos: Manhattan Transfer). Die Welt ist desorientiert, heterogen, chaotisch, hektisch (so führt Döblin: Berlin Alexanderplatz bis hin zur Zusammenhanglosigkeit; vgl. auch Hermann Broch: Schlafwandler III).
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Kommentare

4

Zum Artikel "Epik - erzählerische Mittel und Formen".

  • #1

    Eine wirklich richtig schöne Übersicht. Auch wenn ich mich Nancy anschliessen muss und einige “kurze Unterpunkte” für eine sinnvolle Verbesserung halte.

    schrieb Hinz am

  • #2

    Muss ich auch sagen, hilfreiche Zusammenstellung, bisher übersehen.

    schrieb Herr Rau am

  • #3

    Ich bin durch Zufall auf diese Seite gestoßen und ich muss sagen, vieles hier hat mir weiter geholfen. Nur denke ich, wenn sich hier Leute oder Schüler, die keinerlei “Vorwissen” besitzen, umschauen und etwas wissen wollen, könnte es schwer werden, etwas zu verstehen. Denn es sind für “Nichtwisser” ein paar Informationen zu viel. Mein Vorschlag, man könnte kleinere Unterpunkte aufstellen^^

    schrieb Nancy am

  • #4

    Wunderbare Übersicht! Auch schöne Beispiele, einige Autoren sind aber falsch geschrieben - z.B. Mörike und es heißt Alexanderplatz.

    Hupp - danke für den Hinweis, ist korrigiert. Anmerkung Lehrerfreund, 02.07.2008

    schrieb L.S. am

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