Frage der Perspektive
Wer verarscht hier wen? 06.03.2006, 19:04
Eine smarte Schülerin hat in RP online einen Artikel über "verpeilte Lehrer" geschrieben. Bei der Lektüre fällt auf, dass LehrerInnen von ihren SchülerInnen oft ganz gewaltig unterschätzt werden. Ein Perspektivenwechsel.
Der Vorfall hat sich aus SchülerInnensicht so zugetragen: In der bulligen Sommerhitze eines Klassenzimmers verständigen sich die Schüler/innen während des langweiligen Lateinunterrichts ("was von skalpierten Sklaven") darauf, den Lateinlehrer reinzulegen, indem Sie behaupten, er habe in der letzten Stunde versprochen, bei übermäßiger Hitze den Unterricht ausfallen zu lassen. Der Lehrer blickt ungläubig, ist dann aber offensichtlich zu verpeilt, um sich an die Wahrheit zu erinnern:
„Also gut, wenn ihr euch da alle so sicher seid, wird’s wohl stimmen. Einen schönen Tag noch.“ Mit diesen Worten packte er seine Sachen wieder ein und verschwand. Sieg auf ganzer Linie für die Schülerschaft!!!
Aus Sicht der Autorin wurde der scheinbar senile Lateinlehrer auf ganzer Linie hinters Licht geführt. Es gibt aber auch eine andere Interpretationsmöglichkeit:
Der arme Lateinlehrer muss bei 30 Grad im Schatten mit 20 bocklosen SchülerInnen seinen Nachmittag verbringen - dabei wollte seine Freundin doch heute mit ihm etwas am Baggersee rumfaulenzen. Aber nein ... Natürlich spielt er mit dem illegalen Gedanken, der ganzen Klasse einfach eigenmächtig Hitzefrei zu erteilen, aber das bringt ihn in Verruf. Also ersinnt er einen perfiden Plan.
Zu Beginn der Stunde kontrolliert er hart und nur scheinbar gerecht die Anwesenheit, danach die Hausaufgaben. Gnadenlos teilt er die langweiligste aller lateinischen Geschichten aus - das Märchen vom skalpierten Sklaven. Er weiß genau: Die ganze Klasse wird es hassen. In weiser Voraussicht hat er übrigens schon in der Mittagspause die Fenster zum Klassenzimmer geöffnet, so dass der Raum einer Extremsauna gleicht.
Nun kommt, was kommen muss: Ein Schüler fragt, ob man nicht draußen Unterricht machen könne. Auf diese Frage kann man als LehrerIn kaum positiven Bescheid geben, will man nicht als profilloser Schwächling in der Abizeitung enden. Also schüttelt der Lateinlehrer lustlos den Kopf und macht dazu ein möglichst seniles Gesicht - er hofft auf Plan B. Um der Durchführung auch genügend Raum zu geben, dreht er sich an die Tafel und schreibt ein paar besonders langweilige Vokabeln dran, um der Klasse Spielraum für die Koordination zu geben.
Und tatsächlich - die Klasse ist smart genug, Plan B durchzuziehen. “Sie haben uns doch gestern versprochen, wenn es heute wieder so warm ist, lassen Sie es ausfallen!” Die Trunkenheit des Sieges überfällt den gewitzten Lateinlehrer - nur ein wirklicher Vollidiot würde nach der Frage “Können wir nicht draußen Unterricht machen?” das aktuelle Ansinnen nicht durchschauen. Den Blick noch zur Tafel gewandt setzt er ein besonders stumpfsinniges Gesicht auf, dreht sich langsam zur Klasse und tut so, als würde er angestrengt nachdenken. 20 nickende Gesichter. Er zieht die Stirn in Falten, vollkommen in seiner Rolle aufgehend, um das Nicken zu verstärken - noch nie war jemand so Herr der Lage! Und dann stimmt er zögerlich zu, packt seine Sachen und verschwindet - an den Baggersee.
Zusammenfassung
Die SchülerInnen mögen ihn: Herr Latein gibt sich Mühe, ihnen was beizubringen, lässt sich leicht mal verarschen, ist aber immer motiviert und erfüllt seinen Lehrerjob vorbildlich.
Die Schulleitung und die KollegInnen mögen ihn: Herr Latein ist immer korrekt, keiner, der beim ersten Frühlingssonnenstrahl die ganze Klasse gehen lässt, oh nein! Er gilt als etwas verpeilt, aber im direkten Umgang macht er gar nicht so den Eindruck.
Seine Freundin mag ihn: Herr Latein ist braun und zufrieden. Herr Latein ist ein smarter Gesell, keineswegs verpeilt (wie sie schon hat munkeln hören). Und Herr Latein hat Zeit für sie, wenn sie ihn braucht.
Eine Win-Win-Win-Situation.