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Kompromisslose Formulierung

Alice Schwarzer zum Amoklauf in Winnenden: »Motiv: Frauenhass« 02.04.2009, 02:04

Alice Schwarzer ("Emma"), Feministin, war schon immer für eine Überraschung gut. In einem systemkritischen Gastkommentar auf Lehrer-Online identifiziert sie als Motiv des Amoklaufs von Winnenden "Frauenhass". Durch die kompromisslose Formulierungsweise läuft sie Gefahr, missverstanden zu werden.

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Bisher hat die Debatte um den Amoklauf in Winnenden nicht viel Neues gebracht

Der Amoklauf von Winnenden hat - wie zu erwarten war - eine umfangreiche Debatte angestoßen. Dabei wurden - ebenfalls wie zu erwarten - vor allem die Ursachen der Tat diskutiert. Computerspiele, Waffenbesitz und Schulsystem standen im Zentrum des Interesses, wie Pilze schossen Studien zu Computerspielsucht und medienpädagogische Ratschläge aus dem Boden; fast täglich wird das Verbot von Killerspielen gefordert. Aufschlussreich sind solche Debatten angesichts der Tragik des Geschehens auf jeden Fall. Aber meistens bergen sie nichts Neues.

Alice Schwarzer identifiziert als Motiv des Täters “Frauenhass”

Am 13.03.2009 hat sich Alice Schwarzer auf emma.de zum Amoklauf zu Wort gemeldet; am 25.03.2009 wird Alice Schwarzer “als Gastautorin zu diesem sehr schulrelevanten Thema” auf Lehrer-Online begrüßt (Lehrer-Online 25.03.2009: Zur Sache: Der Amokläufer von Winnenden).
Alice Schwarzer zeichnet das Bild eines verklemmten, frauenfeindlichen Psychotäters unter dem Einfluss von Porno- und Gewaltvideos. Als zentrales Motiv steht der Frauenhass. Von den zwölf Toten in der Schule sind elf weiblich, und das ist laut Alice Schwarzer kein Zufall:

Der Amokläufer war keineswegs wahllos, er hat seine Opfer durch gezielte Kopfschüsse regelrecht hingerichtet. Tim K. erschoss drei Lehrerinnen und acht Schülerinnen, fünf weitere überlebten. [...]
Ist das Drama in der schwäbischen Kleinstadt Winnenden damit das erste Massaker mit dem Motiv Frauenhass in Deutschland - und das zweite weltweit in einem Nicht-Kriegsland?

Lehrer-Online 25.03.2009: Zur Sache: Der Amokläufer von Winnenden

Medienabusus, Waffenbesitz, pädagogische Fehlkonzepte - all diese Aspekte werden mit der Vorstellung eines übertriebenen, gewaltlastigen Männlichkeitswahns verbunden. Folgerichtig bemängelt Schwarzer, dass Frauen und Frauen(menschen)rechte die Verliererinnen dieses Systems sind - und dass dieser Missstand kaum Gegenstand des öffentlichen Interesses ist:

Was eigentlich wäre los, wenn Tim K. in einer gemischten deutsch-türkischen Klasse zu über 90 Prozent Türken erschossen hätte? Die Hölle wäre los! Im ganzen Land gäbe es Proteste und Demonstrationen gegen die Ausländerfeindlichkeit. Doch in diesem Fall hat es sich ja nur um Frauenfeindlichkeit gehandelt.

Lehrer-Online 25.03.2009: Zur Sache: Der Amokläufer von Winnenden

Da hat sie Recht. Denn man darf Alice Schwarzer hier nicht falsch verstehen: Sie behauptet nicht, dass unsere Gesellschaft so frauenfeindlich ist, dass die Exekution von elf Mädchen/Frauen als Banalität wahrgenommen wird (obwohl es der unangebrachten Zynik wegen genau so klingt). Sie bemängelt vielmehr, dass wir dem Thema “Frauenfeindlichkeit” in unserer Erklärungssuche keinen Stellenwert einräumen - im Gegensatz zu Motiven wie Rassismus, Killerspielmissbrauch oder falscher Erziehung.

Alice Schwarzers Erklärungsmodell / Lösungsansatz

Wo immer man die Ursache sieht: Dort muss Prävention und Veränderung ansetzen. Alice Schwarzer beklagt in ihrem Text eine Gesellschaft, in der “Männlichkeit” wichtiger ist als “Menschlichkeit”, weshalb sie entsprechende Veränderungen fordert:

Es sind unsere eigenen Söhne, Nachbarn und Mitschüler, die zu Vergewaltigern und Mördern werden. Wir können uns vor diesen ausrastenden Jungen mitten unter uns nicht schützen.

Wir können sie nur vor sich selbst schützen. Das Rezept dazu heißt: aufmerksame, zugewandte Eltern und Lehrkräfte, mehr Psychologen und Sozialarbeiter in Schulen und Jugendhäusern - sowie eine Erziehung nicht etwa zum Selbstmitleid und zur “Männlichkeit”, sondern zur Mitleidensfähigkeit und Menschlichkeit. Doch vor dem ersten Schritt zur Änderung der Verhältnisse muss die Bereitschaft stehen, die Wurzeln des Übels zu erkennen. Und sie endlich auch zu benennen!

Lehrer-Online 25.03.2009: Zur Sache: Der Amokläufer von Winnenden

Die “Wurzeln des Übels” ist die chronische Dominanz männlichen Seins in der Gesellschaft und seine Auswirkungen. Nur wenn das alle erkennen, so die Botschaft zwischen den Zeilen, kann die Gesellschaft sich hin zum Guten verändern.

Was dieses Erklärungsmodell positiv von den meisten anderen abhebt: Das Übel liegt in sozialen und kulturellen Strukturen der Gesellschaft. Die Bekämpfung von Symptomen wird keinen Effekt haben, außer einigen aalglatten Politikpersonen zur Wiederwahl zur verhelfen. Schwarzer schreit nicht nach diesem Verbot oder jenem Gesetz - sie fordert ein radikales Umdenken im Sinne feministischer Gesellschaftskritik.

Überzogene Forderungen Schwarzers?

Alice Schwarzers Anliegen ist unterstützenswert, ihre Argumentation in großen Teilen einleuchtend. Allerdings sind ihre Forderungen und ihre Simplifizierungen überzogen - genau so überzogen wie die Forderung nach Verboten von Killerspielen oder Waffen. Die Taktik des maßlosen Forderns wurde schon von den klassischen feministischen Sprachkritiker/innen wie Luise F. Pusch erfolgreich angewendet (”Das Deutsche als Männersprache”). Nur durch radikale, teilweise abstruse Forderungen (z.B. nach Einführung des generischen Neutrums) konnte die für Veränderungen notwendige Aufmerksamkeit erregt werden.

Die Konzentration auf den Männlichkeitswahn unserer Gesellschaft hat in dieser Diskussion jedoch einen gewaltigen Nachteil: Es macht die Ergebnisfindung unmöglich. Streng monokausale Ansätze kann man nur ablehnen oder annehmen - dem Erkenntnisgewinn dienen sie in der Regel kaum. Das gilt für Alice Schwarzer ebenso wie für den bayerischen Innenminister Hermann (CSU). Die Gefahr von fruchtlosen Schwarz-Weiß-Diskussionen steigt, und die Emotionen kochen rasch hoch, wie die ersten Kommentare zum Beitrag auf Lehrer-Online zeigen.

Frauenhass? Männerhass?

Der momentan aktuellste Kommentar zum Beitrag dreht den Spieß um: Die Benutzer/in “lonsi82” sieht das Problem nicht im Frauenhass - sondern im Männerhass:

Jungs werden in unserem Schulsystem massiv diskriminiert! Jungs machen seltener das Abitur als Mädchen, schneiden die Berufsschule schlechter ab und haben in praktisch allen öffentlichen Schulen schlechtere Noten. Als ob unter diesen Umständen kein Handlungsbedarf wäre, provozieren femifaschistische Bildungsorganisationen noch mit einem sexistischen Schlag gegen die Jungs, dem “girls-day”, an welchem, wie der Name schon sagt, Jungs nicht teilnehmen dürfen. [...]
Aus purem Männerhass hindern Eltern, LehrerInnen und die Medien grundsätzliche Entwicklungsprozesse eines Jungen. Im Kleinkindesalter wird mit einem Jungen weniger gesprochen als mit Mädchen, haben Untersuchungen ergeben. In der Schule werden Jungs, politisch gewollt, diskriminiert. [...]

Lehrer-Online 25.03.2009: Zur Sache: Der Amokläufer von Winnenden, Kommentar 29.03.2009, 0.53, lonsi82 (Auszug)

Der Kommentar kulminiert einige Absätze später in der Forderung:

Das Rezept heisst nicht Kontrolle, Verbote und Vorschriften. Genau so wenig bringen Internet- und Schusswaffenverteufelungen. Das Rezept heisst ganz einfach: Freiheit, Toleranz, Entwicklungsförderung und vor allem Bildung, Bildung und nochmals Bildung!

Lehrer-Online 25.03.2009: Zur Sache: Der Amokläufer von Winnenden, Kommentar 29.03.2009, 0.53, lonsi82 (Auszug)

Damit dürften sich Alice Schwarzer (“Frauenhass”) und lonsi82 (“Männerhass”) absolut einig sein: Als Ziel steht eine diskriminierungsfreie, freiheitliche Gesellschaft, gegründet auf eine Erziehung zu Toleranz und Menschlichkeit. Wenn sich Feminist/innen, Maskulist/innen, Antifaschist/innen, Behinderte, Medienpädagog/innen, Ausländer/innen, Früherzieher/innen, Politiker/innen, Muslim/innen, Jüd/innen, Lehrer/innen und Christ/innen jedoch auf dem Weg zum Ziel gegenseitig die Köpfe einschlagen, weil sie ihr jeweiliges Erklärungsmodell als das einzige wahre ansehen, wird nicht viel passieren.

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Kommentare

6

Zum Artikel "Alice Schwarzer zum Amoklauf in Winnenden: »Motiv: Frauenhass«".

  • #1

    “es ist statistisch belegt, dass jungs in deutschland eine schlechtere bildung erhalten als mädchen.”

    Das kann man doch so nicht stehen lassen. Für sich genommen, hiesse das, dass Jungen heute das widerfährt, was bis in die Jahre nach dem II. Weltkrieg Mädchen ganz selbstverständlich widerfuhr, die statt das Abitur anstreben zu dürfen, in Bräuteschulen geschickt wurden, in denen man ihnen beibrachte, wie sie dem Manne dienstbar sein können.
    Aber das ist natürlich gänzlich nicht der Fall. In Tat und Wahrheit allerdings tauchen in den Bildungseinrichtungen, die früher Jungen allein vorbehalten waren, heute auch Mädchen auf. Und das hat zur Folge, dass ein gern gepflegtes Vorurteil, dass Mädchen bzw. Frauen generell gegenüber Jungen bzw. Männern intellektuell im Hintertreffen seien, einfach, weil sie weiblich seien, widerlegt wurde. Dass sich aber nicht nur dieses Vorurteil nicht bewahrheitet hat, sondern das krasse Gegenteil statistisch offenkundig zu werden scheint, das wird nun in eine mindere Bildung für Jungen umgemünzt, obwohl diese erkennbar nur wenige Zentimeter neben den Mädchen im gleichen Klassenzimmer sitzen, in denen letztere für den Macho des 19. Jahrhunderts erschreckend gute Ergebnisse erzielen.
    Wenn allerdings in der Tat etwas schädlich ist, dann sind es maskuline Eigenschaften, wie „Powerfrau“, die man „erfolgreichen“ Frauen beimisst, die nur deshalb als erfolgreich gelten, weil sie eine Führungsposition errungen haben, also das Recht, Macht über andere Menschen, u. a. auch über Männer, auszuüben. Wenn wir uns von der „Wettbewerbsgesellschaft“ verabschieden würden, die es als selbstverständliche Pflicht ansieht, andere führen zu wollen, also diese im „Kampf“ zu besiegen, dann wären wir einer Zivilgesellschaft, die diesen Namen verdient, ein gewaltiges Stück näher.

    schrieb Emil am

  • #2

    Frau Schwarzers Überzeugung, Gewalt sei immer männlichen Ursprungs, ist mir denn doch zu simpel, nicht nur, weil der Täter von Winnenden so gar nicht dem Klischee des Machos entspricht. Auch die Geschichte widerspricht dieser Stereotype. In der RAF waren es gerade die Frauen, die sich durch unerbittliche Brutalität hervortaten und diese auch nie bereuten. „Grosse Frauen“ wie Katherina die Grosse, welche nicht gerade zart besaitet war, wenn es darum ging, ihre Macht zu vergrössern oder zu festigen, sprechen auch nicht gerade für ein gewaltloses Prinzip Frau.

    schrieb Emil am

  • #3

    M.Wellendorf scheint absolut weit von der Realität zu leben. Gewaltverherrlichung findet man unabhägig vom Geschlecht und hat tiefe Ursachen in der frühkindlichen Entwicklung, nicht weil Frauen gleichwertige Partner werden bzw. sind.
    Aufgabe der Lehrer ist es mehr dagegen zu tun und nicht die Augen, aus Bequemlichkeit, zu verschließen. Simplifizierend ist der Beitrag von M.Wellendorf ebenfalls.

    schrieb m.schneider am

  • #4

    es ist statistisch belegt, dass jungs in deutschland eine schlechtere bildung erhalten als mädchen. das ist menschenrechtlich gesehen in allen aspekten inakzeptabel. mit sicherheit ist das das kernproblem von allem. würden jungs auch eine solch gute bildung auf staatskosten erhalten wie die mädchen, würde das thema jugendgewalt auch ganz anders aussehen. aber ich hab manchmal das gefühl, unsere netten politiker wollen das problem gar nicht lösen. sie brauchen nun mal ein paar negative schlagzeilen, um ihre macht auszubauen und etwas reden zu können.

    schrieb observer am

  • #5

    Diskriminierung von Jungs? Frauenhass?

    Wieso wehrt sich niemand gegen den ständigen Grundtenor der Diskriminierung von Jungs?
    Jungs haben schlechtere Noten also werden sie diskriminiert?
    Wieso diskutiert niemand das Thema Frauenhass in Winnenden und Kanada (Marc Lepine tötete 1989 14 Frauen)?

    schrieb disappointed am

  • #6

    In den Augen Frau Schwarzers spricht viel dafür, dass die konstruierten Männerbilder - die auf Gewalt als Beweis der männlichen Identität setzen, weil Frauen eben nicht mehr generell unterlegen sind - Ursache dieses Massakers gewesen seien. Und Sie schreibt, dass die potentiellen, männlichen Täter gefährdet und unglücklich seien und es verdient hätten, die Ursachen des Amoklaufes zu erfahren. Das ist Zuwendung, keine Männerfeindlichkeit.
    Natürlich simplifiziert ein halbseitiger Artikel, worum es geht benennt er allerdings klar: Ich kann das erste Mal lesen, dass es hier einen Zusammenhang zwischen der Gewalt und Geschlechterkonstruktionen gegeben hat. Das ist mehr, als ich in der ach so großen Aufregung der Medien bisher erfahren konnte. Die bisherigen Erklärungsversuche der Gewalt waren dagegen simplifizierend.

    schrieb M.Wellendorf am

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