Toleranz
Schwul-lesbische Aufklärungsarbeit an Schulen - Stefan Timmermanns im Lehrerfreund-Interview 25.01.2009, 03:04
"Würden Sie antirassistische Tendenzen in Ihrer Klasse tolerieren, wenn dort nur ein bis zwei Migranten wären?" - Natürlich würden wir das nicht. Sind wir genau so sensibel, wenn es um Lesben- oder Schwulenfeindlichkeit geht? Dr. Stefan Timmermanns, Sexualpädagoge und Autor, über den Umgang mit Homosexualität in Schulalltag und schulische Aufklärungsprojekte.
Was kann man sich unter einem schwul-lesbischen Aufklärungsprojekt an einer Schule vorstellen?
Dr. Timmermanns: Die Projekte laufen teilweise sehr unterschiedlich ab, je nach Projektgruppe, die eingeladen wird. In der Regel dauert die Veranstaltung zwischen 90 und 180 Minuten, es gibt aber auch Tagesveranstaltungen. Nach der Begrüßung findet meist ein Kennenlernspiel oder ein Warming-up statt, um die Befangenheit zu reduzieren. Danach wird eine einführende Methode zum Thema sexuelle Orientierung oder Vorurteile bzw. Diskriminierung eingesetzt, manchmal auch Rollenspiele. Dann haben die Jugendlichen in der Regel die Möglichkeit Fragen an die Lesben und Schwulen aus dem Projekt zu stellen, die je nach Offenheit auch sehr persönlich sein können und sich meistens um das Coming-out und die Reaktionen darauf ranken. Diese Fragerunden finden häufig in getrennt geschlechtlichen Gruppen statt. Am Ende gibt es eine Zusammenführung der Untergruppen, eine Auswertung der Veranstaltung und die Möglichkeit zu einem Feedback. Eine genauere Beschreibung findet sich in „Keine Angst, die beißen nicht! Evaluation schwul-lesbischer Aufklärungsprojekte in Schulen“.
Öffentliche Gelder sind knapp. Liegen schulische Projekte zum Umgang mit Homosexualität nicht weit hinter solchen zu Gewaltprävention, Medienkonsum, Integration etc.?
Dr. Timmermanns: Die Aufklärungsprojekte werden von ehrenamtlich Tätigen Lesben und Schwulen durchgeführt und kosten nicht viel Geld. Einige arbeiten sogar kostenlos. In Nordrhein-Westfalen werden Landesgelder zur Aus- und Fortbildung der Ehrenamtler/innen eingesetzt, damit eine gute Qualität der Veranstaltungen gewährleistet ist. Mit einer einmaligen Veranstaltung kann man sicherlich nicht das Problem der Homophobie bei jedem einzelnen lösen, aber man kann zum Nachdenken anregen und die Grundlage für eine Veränderung legen. Wie nachhaltig die Wirkung eines solchen Projekts ist, hängt sehr von der Vor- und Nachbereitung der Lehrperson ab. Ein aufgreifen des Themas sexuelle Orientierung in anderen Zusammenhängen und eine deutlich erkennbare Haltung der Lehrperson gegenüber Lesben und Schwulen ist die eine Seite. Auf der anderen Seite dürfen Verächtlichmachungen nicht überhört und Schikanieren nicht toleriert werden.
Was entgegnen Sie einer LehrerIn, die Ihnen sagt: “In meiner Klasse ist keiner schwul. Selbst wenn: Wir haben wesentlich größere Probleme anzugehen.”?
Dr. Timmermanns: Wenn in einer Klasse kein friedlicher Unterricht ablaufen kann, weil die Jugendlichen sich ständig ablenken, beleidigen oder sich nicht gegenseitig zuhören oder miteinander diskutieren können, dann sollten erst diese Fähigkeiten trainiert werden. In Klassen, wo all dies schwierig ist, kann man sich ansonsten auf die Zielgruppe einstellen und z. B. relativ bald in möglichst kleine moderierte Untergruppen gehen. Die Aussage, dass es niemanden gäbe, der/ die homosexuell ist, würde ich hinterfragen: Warum glauben Sie, dass sich in der Klasse niemand zu erkennen gibt, obwohl statistisch gesehen 3-5% der Bevölkerung ausschließlich homosexuell sind und noch mehr bisexuell? Ist das Klima Ihrer Klasse/ Schule so sicher, dass jemand öffentlich sagen könnte, homosexuell zu sein, ohne dafür Nachteile in Kauf nehmen zu müssen? Wenn ein junger Mensch unerkannt darunter leidet, dass in der Schule pausenlos Schimpfwörter verwendet werden, die ihn persönlich verletzen und vermitteln, dass er einen wesentlichen Teil seiner Persönlichkeit nicht zeigen darf, dann ist das allemal ein Grund dem Thema sexuelle Orientierung wenigstens einmal in einer Schullaufbahn ein paar Stunden zu widmen. Es handelt sich auch um eine Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft, in der immer noch viele Lesben und Schwule an mangelndem Selbstbewusstsein und Depressionen leiden und psychologische Unterstützung brauchen. Die Grundlagen dafür, ob sich ein Mensch als wertvolles Mitglied einer Gesellschaft sieht und ob ein respektvoller Umgang miteinander erlernt wurde, werden in der Kindheit und Jugend gelegt. Es geht um das Prinzip der Menschenrechte und -würde, da darf sich die Schule nicht einfach mit dem Argument herausreden, dass das ja nur eine Minderheit betrifft. Würden Sie antirassistische Tendenzen in Ihrer Klasse tolerieren, wenn dort nur ein bis zwei Migranten wären?
Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele geoutete Lesben und Schwule an Deutschlands Schulen zu finden sind?
Dr. Timmermanns: Darüber gibt es meines Wissens keine Schätzungen oder Umfragen. Aber es sind sicherlich deutlich weniger als rein statistisch gesehen vorhanden sein müssten! Die Mär von der Verführbarkeit zur Homosexualität hält sich gerade in pädagogischen Zusammenhängen hartnäckig. Dies dürfte vor allem viele Lehrkräfte von einem Coming-out abhalten. Die Schulleitungen fürchten zudem nicht immer ganz zu Unrecht Beschwerden von Eltern.
Sie haben in Ihrem Buch “Keine Angst, die beißen nicht!” schwul-lesbische Aufklärungsprojekte in Schulen beforscht. Welche Erkenntnisse haben Sie dabei erlangt?
Dr. Timmermanns: Schon eine einmalige Veranstaltung mit einem Aufklärungsprojekt kann dazu beitragen, dass Vorurteile abgebaut werden, die Wahrnehmung von Lesben und Schwulen differenzierter wird und konkretes Verhalten sich in einer Klasse ändert. Denn oft führt der nicht-offene Umgang mit dem Thema, das ja in der Pubertät sehr viele Jugendliche beschäftigt und auch ängstigt („Könnte ich vielleicht auch schwul/ lesbisch sein?“), zu Störungen oder Unruhe in der Klasse. Das Unterrichten wird erschwert, die Lehrperson weiß aber gar nicht, woher diese Unruhe kommt und was sie dagegen tun kann. Sicherlich gibt es keine Garantie dafür und der Erfolg hängt auch an flankierenden Maßnahmen, die die Lehrpersonen ergreift (s.o.). Detailliertere Ergebnisse können in „Keine Angst, die beißen nicht!“ nachgelesen werden.
“Schwul” wird gerade von Jugendlichen häufig in abwertender oder beleidigender Weise verwendet. Das Fach Deutsch ist “schwul”, der neue Mitschüler ist “schwul”, der Lehrer natürlich erst recht. Gibt es in jüngerer Zeit eine Entwicklung in die eine oder andere Richtung?
Dr. Timmermanns: An der abwertenden Verwendung des Wortes „schwul“ hat sich in letzter Zeit nichts geändert. Eine englische Untersuchung bestätigt die hohe Bedeutung des Schimpfwortes an dortigen Schulen: In England ist “gay” mit Abstand das Schimpfwort Nummer eins. Und ich sehe hier auch einen Bedarf, dass Lehrkräfte das Thema in der Klasse ansprechen und nicht permanent darüber hinweggehen. Eine klare Haltung, dass Diskriminierung und Verächtlichmachung nicht geduldet werden, sind wichtige Signale an die Jugendlichen. D. h. nicht, dass man permanent ermahnen oder jedes Mal mit drakonischen Strafen drohen muss. Wichtig ist, dass das gesamte Kollegium eine gemeinsame Haltung formuliert und nach außen auch dafür einsteht.
In Ihrem Aufsatz “Echte Kerle haben (keine) Angst vor Schwulen! (pdf)” schreiben Sie: “Pubertierende Jugendliche hassen nämlich vor allem eines: Moralpredigten.” Haben Sie einen Verhaltenstipp für Lehrer/innen, die in der Schule mit Homosexualität konfrontiert werden?
Dr. Timmermanns: Die klare und unmissverständliche Stellungnahme von Erwachsenen zu gesellschaftlichen oder ethischen Fragen ist für die Entwicklung von Jugendlichen in der Pubertät von großer Bedeutung; auch wenn sie sich nicht immer so verhalten, wie Erwachsene es von ihnen erwarten. Einige brauchen einfach auch die Erfahrung durch eine Autorität Grenzen gesetzt zu bekommen. Wenn die Grundhaltung einer Person erkennbar ist bzw. klar ist, ab wann mit einer Sanktion gerechnet werden muss, können auch andere Formen ausreichend sein, um auf ein Fehlverhalten hinzuweisen. Der Königsweg ist hierbei die Ironie (nicht zu verwechseln mit Zynismus oder Sarkasmus), die aber erst ab einem bestimmten Alter verstanden wird. Durch die ironische Brechung können viele Themen leichter angesprochen werden. Die Lehrperson macht deutlich, dass sie ein Fehlverhalten wahrgenommen hat, das sie nicht duldet. Sie verzichtet jedoch wohl wissend auf eine Sanktion und vertraut darauf, dass ihre Grundhaltung bei den Jugendlichen präsent ist und dass ihre Autorität künftig dazu führt, dass z. B. eine dumme Bemerkung über Lesben und Schwule unterlassen wird, weil die Lehrkraft in der Vergangenheit nicht einfach gleichgültig darüber hinweg gegangen ist. Diese Methode funktioniert sicher nur, wenn eine ausreichende Autorität vorhanden ist und wenn es sich um kleinere Fehlverhalten handelt. Handelt es sich aber um grobe verbale Beleidigungen oder physische Attacken, müssen selbstverständlich andere Sanktionen ergriffen werden. Diejenigen, die sich den Umgang mit Ironie nicht zutrauen, können immerhin respektloses oder übergriffiges Verhalten einer Person offen ansprechen und sie zur Rede stellen. Andere Jugendliche können einbezogen und nach ihrer Bewertung oder möglichen Reaktion in einer solchen Situation gefragt werden. Wichtig ist, das Verhalten zum Thema zu machen, es zu hinterfragen sowie die eigene Haltung deutlich zu machen und nicht einfach zur Tagesordnung überzugehen.