Sündenbock Computerspiele?
Amoklauf in Winnenden 2009 - Und wieder beginnt die Suche nach den Ursachen 11.03.2009, 18:52
Beim Amoklauf in einer Realschule in Winnenden (bei Stuttgart) am 11.03.2009 wurden 16 Menschen getötet. Wieder einmal hatte der Täter unkomplizierten Zugriff auf Handfeuerwaffen - und wieder einmal werden die nächsten Wochen von der Diskussion um die Rolle gewalthaltiger Medien dominiert sein. Mit einem Kommentar des Medienexperten Marc-Niclas Heckner.
Tathergang
Der Amoklauf ereignete sich gegen 9:30 in Winnenden bei Stuttgart. Obwohl die Tragödie bereits morgens geschah, nach Angaben des Polizeisprechers „mit Hochdruck“ gefahndet wurde und der mit einem Kampfanzug bekleidete Schütze Richtung Innenstadt geflohen sei, wurde der Täter erst mittags gestellt und erschossen. Zusätzlich zu den 16 Toten (davon 9 Schüler und 3 Lehrer) wird von mehreren Schwerverletzen berichtet. Polizeichef Konrad Jelden teilte der Presse mit, dass der Vater des Täters legal 16 Waffen besaß. Die Tatwaffe entstamme dieser Sammlung.
Die Schuldfrage
In einem Interview auf n-tv weist ein Amokforscher der Deutschen Hochschule der Polizei (Münster) den Medien eine Teilschuld zu: Die Medien stünden unter dem Druck, möglichst dramatische Bilder zu präsentieren. Menschen an der Grenze zum Amoklauf würden von der reißerischen Berichterstattung zum letzten Schritt ermutigt. Im ZDF-Mittagsmagazin umriss Professor Lothar Adler, der nach dem Amoklauf von Erfurt mit der Betreuung der Opfer beauftragt war, das klassische Profil eines Amokläufers unter anderem mit einer allgemeinen Schwierigkeit, sich in eine Gemeinschaft einzufügen. Da diese und weitere Eigenschaften jedoch auf eine riesige Anzahl von Jugendlichen zuträfen, sei ein „Profiling“ potentieller Täter, wie dies beispielsweise in den USA praktiziert würde, von vorne herein zum Scheitern verurteilt.
Obwohl offiziell noch keine Motive des Täters bekannt sind, ist man auf n-tv.de bereits dabei, Zusammenhänge herzustellen. Unter Berufung auf „einen Nachbarn“ berichtet man unter anderem, dass der Täter zu Hause “eine umfangreiche Sammlung an Horrorvideos“ gehabt habe.
Die Suche nach Gründen: Soziale Verantwortung oder politischer Selbstzweck?
Zusätzlich zum Leid der Hinterbliebenen, das sich selbst von ehrlich erschütterten Außenstehenden sicherlich nur schwer nachempfinden lässt, wird der dritte Amoklauf nach Erfurt und Emsdetten gerade jetzt im Superwahljahr vermutlich wieder die Diskussion um Gewalt in den Medien aufflammen lassen. Zwar spricht der Baden-Württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) in einer Pressekonferenz von einer „in keiner Form erklärbaren Tat“; eine Polemik, in der das Verbot so genannter „Killerspiele“ als Nährboden für diese Taten gefordert wird jedoch könnte eventuell bald neben der desolaten Wirtschaftslage den Wahlkampf bestimmen. Vermeintliche Zusammenhänge zwischen Gewaltdarstellung in der Popkultur und tatsächlich ausgeübter Gewalt könnten dann dazu benutzt werden, Universallösungen wie Einschränkungen der künstlerischen Ausdrucksfreiheit plakativ zu bewerben, um sie als Wahlversprechen verwerten zu können. Dass bei einem drastischen Vorgehen gegen Mediengewalt oftmals selbst Expertenurteile nicht ernst genommen werden, zeigt die massive Kritik des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) am Zwölfergremium der FSK, als dieses damals entschied, dass das Spiel Counterstrike keinen Gefährdungsgrad besitze, der eine Indizierung rechtfertige.
Es bleibt abzuwarten, ob man für den Wahlkampf weniger populäre Themen (wie Zugänglichkeit zu Waffen, reißerische Berichterstattung) problematisiert, oder ob wieder einmal publikumswirksam leicht greifbare Faktoren wie Actionfilme und Videospiele zu Sündenböcken gemacht werden. Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis Boulevardmedien eine Verbindung des Autoraubs während des Amoklaufs zum Spielverlauf des Sandbox-Games „Grand Theft Auto IV“ herstellen.
Interessant ist auch die Frage, wie sehr Web 2.0-Dienste (wie Twitter oder Facebook) Einfluss auf die Berichterstattung nehmen werden. Schon heute zitierte n-tv gegen 13.40 Uhr private Benutzer/innen von Commmunity-Plattformen, die sich an den Amoklauf von Erfurt erinnert fühlten. Solche (häufig unqualifizierten und/oder minderjährigen) Benutzer/innen sind Volkes Stimme, und es ist erfreulich, dass TV-Sender unmittelbaren Zugriff auf diese haben. Ob die zitierten Meinungen jedoch zur Ursachenerforschung beitragen, darf angezweifelt werden. Im Falle von n-tv wurde dadurch ohne informativen Mehrwert die vermeintliche Notwendigkeit unterstrichen, alte Beiträge über vorherige Amokläufe in Zusammenhang mit der heutigen Tat zu senden. Eine journalistische Herleitung dieses Zusammenhanges wäre sicher sinnvoller gewesen als die Verwertung unqualifizierter Postings im Web.