Prognose
Deutsch-Abitur Baden-Württemberg: Kommentar zu Aufgaben 2010; Prognose für 2011 22.02.2011, 00:17
Die Deutschlehrerin Db (JKG Bruchsal) hat in den letzten Jahren einige zutreffende Voraussagen für die Themen für das Deutsch-Abitur gestellt (2009: 100%!); letztes Jahr lag sie leider daneben. Wie vor jedem Abitur hier ein fundierter Kommentar zu den Aufgaben 2010 (Kohlhaas, Proceß, Räuber) und ihrer Verteilung auf die einzelnen Aufgabentypen - und natürlich wieder eine Prognose, wie das Deutschabitur 2011 aussehen könnte.
Natürlich gab es zum Abitur 2010 in Baden-Württemberg die übliche kleine Wette, doch diesmal sind wir uns absolut einig, dass ich verloren habe. Das sehen auch die Kommentatoren so:
voll vorbei die prognosen xD
Dennoch herrschte Zufriedenheit mit den Themen vor:
Gott sei dank war die Prognose für die Katz!
Gute Themen.
Nun, keine der Prognosen war wirklich zutreffend. Denoch kamen wir ganz gut davon. Inwieweit die Justiz die beiden Protagonisten jeweils beeinflusste - das ließ ja einiges an Spielraum. (...)
Neues Spiel, neues Glück: Zur Prognose für das Deutsch-Abitur 2011 auf dieser Seite unten springen.
Deutsch-Abitur Baden-Württemberg 2010 - Kommentar zu den Aufgaben
Im Folgenden werden die baden-württembergischen Abituraufgaben von 2010 genauer unter die Lupe genommen.
Großes Erstaunen allerseits: In den ersten beiden Aufgaben gab es genau die gleiche Konstellation wie im Abitur 2009 - nur, dass dieses Mal in Aufgabe I ein Kafka-Ausschnitt analysiert wurde und Kleist lediglich im Vergleich zum Zuge kam. Wieder war Schiller gestaltend zu interpretieren, wieder ein Dialog zu schreiben. Mit dieser Wiederholung hat, glaube ich, wirklich niemand gerechnet.
Aufgabe I: Vergleich Josef K. - Kohlhaas
Zum ersten Mal stand ein Ausschnitt aus Kafkas „Der Proceß“ zur Wahl. Die Textstelle aus dem Kapitel „Erste Untersuchung“ bot dabei genug Stoff zur erzählerischen und sprachlichen Betrachtung. Sie ist allerdings nicht unbedingt typisch für K.s Verhalten, da er hier sehr aktiv wirkt und ,das große Wort‘ führt. Dafür bietet sie gute Anknüpfungspunkte zu „Michael Kohlhaas“ („es ist das Zeichen eines Verfahrens wie es gegen viele geübt wird. Für diese stehe ich hier ein, nicht für mich.“)
In der dritten Teilaufgabe sollte daher auch auf K.s sonstiges Verhalten eingegangen worden sein, z.B. inwieweit er dieses Versprechen einhielt.
Spitzfindig konnte man wie dieser Kommentator bei sehr genauem Lesen der dritten Teilaufgabe feststellen:
“ Ich frage mich ständig warum überall steht, dass die letzte Teilaufgabe der Aufgabe I als vergleich aiufgefasst wird?? Die Aufgabe hieß doch, soweit ich mich erinnere: “Prüfen Sie inwiefern sich die beiden Charaktere Josef K. und Michael Kohlhaas durch die Justiz verändern.”
Der Operator lautete doch nicht “vergleichen”....
Zu Recht bekommt er diese Antwort:
@flo Die dritte Aufgabe bei Aufgabe I wurde bei uns immer Vergleichsaufgabe genannt, weil die Aufgabe I “Werk im Kontext” heißt. Aber der Operator hieß “Prüfe”, stimmt. Denke aber, dass es sicher nicht schadet, wenn man prüft und resümierend feststellt, dass die Veränderung der Protagonisten gegenteilig verläuft.
Insgesamt war der Aspekt „Veränderung durch die Auseinandersetzung mit der Justiz“ sehr dankbar und mit fundierter Textkenntnis gut lösbar.
Aufgabe II: Gestaltende Interpretation der “Räuber” (nur allg. Gymn.)
Dazu noch einmal dieser Kommentator:
“Die Räuber” haben als seperates Thema der Aufgabe 2 einen würdigen Abgang vollzogen. Als Krönung ließ die Komission überraschend doch noch mal Karl den Vortritt…
Der arme Franz von Moor, sogar im baden-württembergischen Abitur nur zweite Wahl. Schade, einen Vergleich der beiden gekränkten Rächer Franz und Michael Kohlhaas halte ich für ergiebig, aber: Der zweitgeborene Moor hat seine Arbeit getan, der Moor kann gehen.
Ausgangspunkt war der Monolog des erstgeborenen Moors im 4. Akt: Karl sinniert „heftig zitternd“ über seine Taten, hegt zunächst Selbstmordgedanken, entscheidet sich dann aber doch für das Weiterleben in eigener Verantwortung: „Ich will‘s vollenden.“
Dazu sollte zunächst das Bild beschrieben werden, welches der Leser hier von Karl bekommt. Verlangt war also keine Einordnung in die Handlung, sondern eine inhaltliche Interpretation der Textstelle, die andere Textstellen zur Charakterisierung der Hauptfigur hinzuziehen könnte.
Die zweite Teilaufgabe weitete den Blick. Nicht diese konkrete Textstelle sollte unmittelbar gestaltend interpretiert werden, sondern die Figur Karl Moor. Dazu liegt die angenommene Ausgangssituation hinter dem Ende des Dramas (überspringt also einen ganzen Akt) und sei ein Gespräch zwischen Ankläger und Verteidiger, welche sich über den verhafteten Karl und seinen Fall unterhalten.
Hier lässt sich zwar wieder über die Auffassung vom Aufgabentyp „Gestaltendes Interpretieren“ diskutieren, ob nicht der (zu interpretierende?) Textausschnitt bloß als ,Aufhänger‘ diente. Jedoch läuft ein Dialog nach Abschluss des Dramas nicht einem allgemeinen (Gesamt-)Textverständnis zuwider und stört nicht, anders als der in 2009 verlangte Dialog Karl-Franz, den weiteren Verlauf der Handlung.
Insgesamt war es eine sehr schülerfreundliche Aufgabenstellung: Über Schuld oder Nichtschuld Karls ist im Unterricht sicherlich diskutiert worden. Auch ersparten die fiktiven Anwaltsfiguren den SchülerInnen ein Hineinversetzen in konkrete Figuren des Dramas und ein Nachahmen Schillerschen Duktus‘, sie erlaubten eigene kreative Gestaltungsansätze.
Aufgabe IV: Liebeslyrik
Zu vergleichen war ein Sonett von Rainer Maria Rilke mit einem Gedicht von Volker Braun, thematische Gemeinsamkeit die notwendige Veränderung des Individuums durch die Liebe bis zu Selbstverlust und Hingabe.
Sprachlich gesehen waren diese Gedichte recht einfach zu deuten, da nicht so metaphernüberfrachtet wie z.B. das von Dagmar Nick im Abitur 2009. Dennoch bilden die Rilkeschen Enjambements und religiösen Anspielungen sicherlich einige Stolpersteine.
Volker Brauns Sprache wirkt alltäglich, ist dennoch mit Bedacht konstruiert. Stolperstein ist hier für mich die Frage nach dem Geschlecht des lyrischen Ichs. Alle mir bekannten Interpretationen haben es bei Volker Braun ebenfalls, wie im Rilke-Gedicht, weiblich gesehen. In meinen Augen ist jedoch trotz „er küsst mich, ich küsst ihn“ nicht festgelegt, dass das lyrische Ich weiblich sein muss. Einige Textstellen lassen das Gedicht auch als ,outing‘ („Reden uns aus uns heraus“) eines männlichen lyrischen Ichs klingen, was endlich mit sich und seiner sexuellen Orientierung im Einklang sein kann: „Meinen ganzen Leib / Nehm ich nun ein“ - „Ich geb mich ihm hin / Und gehör doch mir.“
Aber solche offene Denkweise war von den SchülerInnen, zumal in einem Abituraufsatz, sicherlich nicht zu verlangen.
Die Erörterungen: Aufgabe III: Literarische Erörterung und Aufgabe V: Texterörterung
Die literarische Erörterung ging in diesem Jahr nicht von einem konkreten Zitat aus. Anhand der Leseerfahrung sollte die etwas schwammige These geprüft werden, dass „gute Literatur (...) etwas Bleibendes, stets Gültiges besitzt“ und unabhängig von ihrer Entstehungszeit dem Leser etwas bedeutet. Vom Niveau her eher Zentrale Klassenarbeit Kl. 10, für Schüler dennoch vermutlich ein (zu) ,weites Feld‘ angesichts der eher ungeliebten Pflichtlektüren.
Das Thema „Vertrauen“ der textgebundenen Erörterung war dagegen ansprechender, die Textgrundlage bildete ein Aufsatz von Detlef Esslinger. Er bot viele Alltagsbeispiele und dadurch genug Anknüpfungsmöglichkeiten für die Erörterung von Möglichkeiten und Grenzen von Vertrauen in der heutigen Zeit. Die adressatenbezogene Teilaufgabe verlangte das Erörtern in Form einer Rede vor Mitschülern im Rahmen eines Diskussionsabends.
Prognose für Abitur-Themen 2011
In diesem Jahr ist eine Prognose aus verschiedenen Gründen nur sehr eingeschränkt möglich.
Zum einen werden die Karten neu gemischt: Es gibt eine neue Pflichtlektüre, in 2011 ist „Der Besuch der alten Dame“ in Baden-Württemberg zum ersten Mal ‚Sternchenthema’.
Zum anderen „kann“ (sic !) sich ebenfalls zum ersten Mal der Vergleich in Aufgabe I auf „alle drei der genannten Pflichtlektüren“ ausdehnen. (vgl. dazu das Schreiben des RP Freiburg vom 8.12.2010 (PDF)).
Damit wird einer ,automatischen‘ Festlegung nach Art von „X vs. Y in Aufgabe I => Z in Aufgabe II“ vorgebeugt.
Dennoch kann ich auch in diesem Jahr der Versuchung nach Wahrscheinlichkeits-Überlegungen nicht widerstehen - betone aber um so mehr: „Alle Angaben wie immer ohne Gewähr :-) - und egal was kommt, in jedem Falle viel Erfolg!“
Also:
„Kohlhaas“ ist nach wie vor die ergiebigste Grundlage für Gestaltendes Interpretieren. Vor zwei Jahren wurde er ,klassisch‘ interpretiert, im letzten Jahr ohne Textausschnitt nur in der Vergleichsaufgabe bearbeitet. Er wäre also ,dran‘ in Aufgabe II.
Aus „Der Proceß“ wurde in 2010 zum ersten Mal überhaupt in einer Aufgabe ein Textbeispiel angeboten, noch dazu ein untypischer, dafür aber ,griffiger‘ Ausschnitt. Die Erfahrung zeigt, dass Kafka-Interpretation SchülerInnen eher schwer fällt. Da könnte die neue Pflichtlektüre „Der Besuch der alten Dame“ frischen Wind in die ,klassische‘ Interpretationsaufgabe bringen. Überlegungen zu Vergleichsmomenten zwischen Dürrenmatts Drama und den beiden Prosa-Werken finden sich genug, z.B. hier: schule-bw.de: Schnittmengen Abitur 2011, 2012 und 2013.
Zusammenfassung der Prognose für das Deutsch-Abitur 2011:
Aufgabe I: Analyse „Der Besuch der alten Dame“ – Vergleich mit „Der Proceß“ (eventuell auch mit dem dritten Werk „Michael Kohlhaas“)
Aufgabe II: Gestaltende Interpretation von „Michael Kohlhaas“
„Topp! Und Schlag auf Schlag!“ :-)
Doch es kann nicht oft genug gesagt werden: „Alle Angaben wie immer ohne Gewähr - und in jedem Falle viel Erfolg!“