Michael Winterhoff im Interview
Was haben Lehrer und Verkehrspolizisten gemeinsam? 09.10.2011, 22:48
Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff rechnet im Interview mit der modernen Pädagogik ab. Lehrer als Lernbegleiter, selbstgesteuertes Lernen sei für sehr viele Kinder nicht geeignet. Diese bräuchten "ein klares Regelwerk" - wie im Straßenverkehr.
Der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff wurde bekannt durch sein Buch Warum unsere Kinder Tyrannen werden: Oder: Die Abschaffung der Kindheit (Wikipedia kennt die zentralen Thesen und die Kritik daran).
In einem knappen, lesenswerten Interview bei DiePresse.com (Psychiater: "Die moderne Pädagogik ist ein Luxus" (10.10.2011)) bringt er seine Sichtweise auf den Punkt und rechnet mit der modernen Pädagogik ab.
Winterhoff ist davon überzeugt, dass vielen Eltern eine solide emotionale Orientierung fehlt - was es deren Kindern verunmöglicht, sich im emotionalen Bereich selbstständig zu entwickeln. Für diese Kinder sei es "fatal", wenn Lehrer/innen nur als Lernbegleiter/innen fungieren. Offene Unterrichtsformen, begleiten statt erziehen, selbstgesteuertes Lernen sei eine "Luxuspädagogik" nur für die Kinder, die aus Familien mit gesunden und fördernden Strukturen kommen. Bei den anderen funktioniere das alles nicht.
Erwachsene im Straßenverkehr haben ein klares Regelwerk, würde man das abschaffen, hätte man Chaos auf den Straßen. Wenn man es dem Lehrer wegnimmt, herrscht Chaos in der Klasse. Im Straßenverkehr sind wir gezwungen, immer schärfere Bedingungen zu schaffen. In der Schule bauen wir diese Dinge ab und das ist eigentlich fatal für die Kinder. Denn sie suchen Halt und Orientierung.
DiePresse.com 10.10.2011: Psychiater: "Die moderne Pädagogik ist ein Luxus"
Ein sehr anschaulicher, diskutierenswerter Vergleich. In der Tat ist ein "klares Regelwerk" absolut notwendig für das Funktionieren von Unterricht und Erziehung. Und tatsächlich ist die Abschaffung von klaren Regeln ein - unerwünschter und destruktiver - Nebeneffekt vieler pädagogischer Neuerungen.
Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied zwischen Pädagogik und dem Straßenverkehr: Die Straßenverkehrsordnung richtet sich in ihren meisten Teilen an Erwachsene und hat nicht das Ziel, Entwicklungen zu veranlassen und zu befördern, sondern soll ausschließlich die Funktion des Systems gewährleisten. So sind Dimensionen wie "Motivation", "Spaß" oder "Kreativität" nicht in der Straßenverkehrsordnung vertreten (zum Glück). Der Verkehrspolizist wendet die Regeln ausnahmslos und ohne Reflexion an. Wo käme er auch hin, wenn er sich bei jedem Geschwindigkeitsbegrenzungsschild fragen würde, ob dieses Schild hier sinnvoll ist? Oder wenn er mit jedem trunkenen Fahrer diskutieren würde, ob man drei Bier nun spürt oder nicht oder ob das heute mal eine einzige Ausnahmesituation war oder nicht?
Die meisten Pädagogen wären wahrscheinlich ganz, ganz schlechte Verkehrspolizisten. Und zum Glück arbeiten Verkehrspolizisten nicht als Lehrer.
Beides wäre "fatal" - für die Kinder.