Gewaltanwendung
Gerichtsurteil: Lehrer dürfen Schüler körperlich maßregeln 12.03.2010, 19:51
Eine Lehrerin hat einem 11-jährigen Schüler einen blauen Fleck verpasst, als sie ihn grob aus dem Klassenzimmer beförderte. Das Landgericht Berlin hat auf Straffreiheit entschieden - es habe sich um eine Ordnungsmaßnahme ohne Alternative gehandelt. Damit befürwortet das LG Berlin körperliche Gewalt gegen Schüler/innen unter bestimmten Umständen als legitimes Mittel.
Blauer Fleck ohne rechtliche Folgen
Ein 11-jähriger Schüler störte trotz Ermahnungen der Lehrerin den Unterricht. Die Lehrerin forderte ihn auf, das Klassenzimmer zu verlassen, was der Junge nicht tat. Daraufhin packte die Lehrerin den Schüler nach dessen Aussage am Oberarm und führte (zerrte?) ihn aus dem Raum. Dabei erlitt der Schüler am Oberarm ein Hämatom (= blauer Fleck) von 2cm Durchmesser, was ungefähr der Größe eines 10-Cent-Stücks entspricht.
Die Staatsanwaltschaft sah darin den Straftatsbestand der Körperverletzung erfüllt, nicht aber das zuständige Amtsgericht. Auch in der nächsten Instanz wurde die Klage vom Landgericht Berlin abgewiesen.
Argumentationsweise der Gerichte
Das Landgericht Berlin sah in dem Verhalten der Lehrerin kein strafbares Verhalten und begründete das Urteil durch zwei Argumente:
1) Ein blauer Fleck ist noch keine Körperverletzung
Ein blauer Fleck ist nach Auffassung des Landgerichts nicht so “erheblich”, dass der Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt ist.
Matthias Böhm, Rechtsanwalt, führt für die GEW Berlin aus:
Wegen der Erheblichkeit verweist das Landgericht eigentlich auf eine Selbstverständlichkeit [...]: Nicht mit jedem körperlichen Übergriff ist der Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt. [...] maßgebend [für die Erheblichkeit] ist die Sicht eines objektiven Betrachters [...]. Geringe Blutergüsse oder Ähnliches, wie beispielsweise auch ein schmerzhafter Festhaltegriff, der zu einem blauen Fleck führt, liegen unterhalb der Bagatellgrenze.
Eine erstaunliche Einschätzung des Landgerichts gerade in schulischem Kontext. Wenn das Zupacken am Oberarm mit geringen Blutergüssen als Folge erlaubt ist, dann müssten auch kräftige Fußtritte in den Hintern oder Ohrfeigen erlaubt sein. Sie hinterlassen - wie die früher beliebten Tatzen - dosiert eingesetzt ebenfalls keine Spuren, schmerzen nur kurz und erfüllen damit nicht den Straftatbestand der Körperverletzung. Dass Fußtritte und Ohrfeigen jedoch in pädagogischer wie auch juristischer Hinsicht nicht akzeptabel sind, ist unumstritten.
2) Das Verhalten der Lehrerin war gerechtfertigt
Die zweite Argumentationsrichtung des Landgerichts Berlin zielt darauf ab, dass die Lehrerin den Schüler durch ihre Aktion nicht bestrafen wollte, sondern die Ordnung im Klassenzimmer aufrecht erhalten wollte und keine Alternative hatte: Wenn ein/e Schüler/in auf verbale Aufforderungen nicht reagiert und dadurch die Ordnung im Klassenraum nicht aufrecht erhalten werden kann, ist es erlaubt, die Schüler/in anzufassen, um die Ordnung wiederherzustellen (bzw. zu erhalten) - selbst wenn dabei (im Rahmen der Verhältnismäßigkeit) die Erheblichkeitsschwelle überschritten wird! Das Gericht im Wortlaut:
Das Zufassen war in dieser Situation alternativlos. Die Möglichkeit, in vergleichbaren Situationen immer sofort die Polizei oder andere Mitarbeiter der Schule herbeizurufen, zöge nicht nur — soweit das Amtsgericht zutreffend — einen nicht wieder gut zu machenden Autoritätsverlust der Lehrerin nach sich. Zwangsläufig entstünde der Eindruck, die Angeschuldigte könne sich nicht einmal einem elfjährigen Schüler gegenüber durchsetzen. Ihre Stellung als Autoritätsperson würde nachteilig untergraben. Die jeweiligen Schüler und Nachahmer hätten es zudem in der Hand, den Schulbetrieb immer wieder stillzulegen und nachhaltig zu stören.«
Der den Fall für die GEW interpretierende Anwalt findet diese Argumentationsweise “rechtlich interessant”. Und das ist sie deshalb, weil sie die Grenze zur Alternativlosigkeit aufweicht. “Keine Alternative” zu körperlichen Maßnahmen hat man dann, wenn die eigene Gesundheit durch das Gegenüber bedroht ist - dann spricht man von einer Situation der Notwehr. Das LG Berlin befürwortet mit seiner Begründung Gewalt auch außerhalb von Notwehrsituationen. Unklar ist, ab wann es keine Alternativen mehr gibt. Wenn der Schüler den Klassenraum nicht verlässt? Wenn er seine Hausaufgaben nicht gemacht hat? Wenn er einen anderen Schüler schlägt?
Gewalt als pädagogische Option
Das Urteil ruft höchst unterschiedliche Reaktionen hervor. So kommentiert “Frau Freitag” in ihrem Blog “Na, wie war’s in der Schule”:
Es kann doch nicht angehen, dass uns die Schüler ständig mit Anzeigen drohen. “Das dürfen Sie nicht!” höre ich fast täglich. [...] Sie wissen immer ganz genau, wann wir uns im rechtlichen Niemandsland befinden, aber sie prügeln, beleidigen und stören ständig. Nie halten sie ich an irgendwelche Regeln. Schulordnung, Klassenregeln, Gesetze – gilt für sie alles nicht. [...]
Aber wehe ich fasse ihre Tasche an, weil sie sich weigern den Raum zu verlassen, nachdem ich sie mehrfach dazu aufgefordert habe: “Das dürfen Sie nicht!” “Ich mach’ Anzeige.” Schiebe ich sie sanft mit der flachen Hand nach draußen: “Ich mach’ Anzeige wegen Körperverletzung!”
Aber jetzt wird alles anders. Zur Durchsetzung der Ordnung darf ich den Schüler auch anfassen.
[...]
Ab morgen wird richtig zugepackt. Rechtlich abgesichert bin ich ja.
Da hat sie Recht - sofern sie der abartigen Argumentation des Landgerichts Berlin folgen will. Doch wo ist das Ende? Wenn Frau Freitag morgen damit beginnt, in ihren (wer das Blog kennt, weiß: wirklich schwierigen) Klassen die Ordnung gewaltsam herzustellen, wird ihr “Zupacken” nichts weiter erzeugen als Aggression und noch mehr Gewalt. Autorität wird sie dadurch - wie das LG impliziert - keine gewinnen.
Viele Gerichte urteilen übrigens ganz anders. Im Juli 2009 wurde in Süddeutschland ein Lehrer für einen leichteren Fall relativ heftig gemaßregelt (Lehrerfreund 10.07.2009: Warum Lehrer Schüler nicht berühren sollten). Natürlich stellt sich bei all diesen Fällen die schwere Frage, ob die Anzeige gerechtfertig ist - war die Lehrerin im aktuellen Fall tatsächlich verantwortlich für das Hämatom?
Doch das steht auf einem anderen Blatt. Das Urteil des LG Berlin bezieht sich auf die Gewaltanwendung und legt nahe, dass körperliche Gewalt unterhalb der “Erheblichkeitsschwelle” für Lehrer/innen grundsätzlich eine Option darstellt. Dabei ist das pädagogische Prinzip ein gänzlich anderes, das dem LG Berlin offensichtlich gewaltig fremd ist: “Gutta cavat lapidem, non vi sed saepe cadendo.” (Ovid)