An der Grenze zur Legalität
Kreativer Umgang mit der Schulpflicht - Erfahrungsbericht einer Mutter 07.11.2012, 19:52
Ellen Gause lehnt die Schulpflicht nicht ab. Doch ihre drei Kinder durften immer selbst entscheiden, ob und wann sie in die Schule gehen. Sie sollten Freiräume haben, um sich selbstständig und ihren eigenen Interessen gemäß zu entwickeln. Ein Bericht von Einer, die sich nicht anpassen wollte.
Gastbeitrag von Ellen Gause - vielen Dank!
Hintergrund
Meine Schulzeit war für mich von der ersten Klasse bis zu meiner Selbstentlassung eine deprimierende Erfahrung. Da es zum bestehenden Schulsystem keine Alternative gibt, habe ich überlegt, wie ich verhindern kann, dass diese Zeit für meine Kinder zu einer ähnlich frustrierenden Erfahrung wird.
Weil Druck Angst erzeugt und Angst blockiert, habe ich versucht jeden Zwang zu vermeiden. Für die Kinder sollte die Schule eine Möglichkeit sein zu zeigen, was sie können. Nicht nur was sie schon wissen, sondern auch wie gut sie lernen und mitarbeiten können.
Das erste Kind ist mit sechs Jahren eingeschult worden und hat aus Mangel an inhaltlicher Herausforderung nach kurzer Zeit die direkte Auseinandersetzung mit dem Lehrpersonal gesucht. Größere Eskalationen konnte ich verhindern, aber die Grundschulzeit ist in seiner Erinnerung ein überflüssiges Ärgernis.
Durch diese Erfahrung gewarnt, haben wir das nächste Kind gegen einigen Wiederstand und trotz schlimmer Prophezeiungen mit fünf Jahren eingeschult. Ein großer Glücksfall hat uns dann auch noch eine Lehrerin beschert, die den Mut hatte das Kind nach einem halben Schuljahr in die zweite Klasse zu schicken, damit es nicht mit sinnlos stillsitzen überfordert ist.
Das jüngste Kind ist ebenfalls mit fünf Jahren eingeschult worden, hat auch ein Jahr übersprungen und dann das Riesenglück gehabt eine Lehrerin und eine Klasse zu erwischen, die perfekt zu ihm passten.
Ich will damit nicht sagen, dass alle Kinder mit fünf Jahren eingeschult werden sollten, sondern ich möchte Mut zu mehr Eigeninitiative machen. Wer sich mit seinen Kindern beschäftigt, sie täglich von morgens bis abends begleitet und aufmerksam beobachtet, wie sie sich entwickeln und lernen, der kann sie besser einschätzen als jeder andere. Und es sind nun einmal die Eltern, die dem Kind die Freiheit geben können zu entscheiden, wo und wie schnell es lernen kann und wann es sich austoben bzw. entspannen möchte.
Unser Schulsystem ist so, wie es ist, weil sich zu wenige trauen, das Schicksal ihrer Kinder bewusst in die eigenen Hände zu nehmen. Die weit verbreitete Normgläubigkeit verhindert eine echte Auseinandersetzung mit dem Thema Bildung und überlässt dem Staat das Feld.
Man nimmt den Kindern die Freiheit, die sie dringend brauchen um selbstbewusste, kritische und verantwortungsvolle Menschen zu werden. Deshalb wünsche ich mir, dass die Schulpflicht abgeschaft und zu einem echten Bildungsangebot weiterentwickelt wird. Klare, nachvollziehbare Zielsetzungen zur Orientierung und Qualifizierung ohne die menschenunwürdige Gängelung, die wir momentan sogar noch an Universitäten haben. Die entscheidenden Faktoren sind Motivation, Temperament und Talent. Motivation kann man nicht erzwingen, Temperament nicht beeinflussen (außer durch Medikamente) und Talent kann man nicht kaufen. Allerdings muss der Mensch alles lernen. Besonders schwer fällt es ihm Gewohnheiten zu hinterfragen oder Fremdes wohlwollend zu prüfen. Und dass, obwohl Flexibilität die gesellschaftliche Fähigkeit ist, die wir in einer Zeit sich ändernder Grundlagen dringend brauchen.
Mehr Mut zum Chaos!
Methode: Schule als Angebot
Wir haben unseren Kindern die Schule immer als Angebot und Herausforderung dargestellt und nicht als Zwang.
Grundsätzlich haben wir die von der Schule vorgegebenen Lernziele dabei nicht in Frage gestellt. Das heißt, wir haben den Kindern erklärt, bzw. sind immer noch dabei, dass bestimmtes Wissen und Können notwendig ist, um Dinge zu erreichen, damit man sein Leben in einer Gesellschaft möglichst selbstständig gestalten kann. Man muss verstehen, warum die Bedingungen sind, wie sie sind - um sie verbessern zu können. Und wir haben ihnen erklärt, dass man eigentlich nie genug wissen kann, dass es aber auch nicht darum geht „Wissen“ zu sammeln, sondern darum, es werten und sinnvoll einsetzen zu können.
Um diese Selbstständigkeit, um das größtmögliche Maß an Freiheit geht es schließlich. Auch wenn absolute Freiheit nur als anzustrebendes Ziel besteht, ist sie doch das Maß, an dem sich die Lebensqualität des Einzelnen in der Gesellschaft bemisst.
Die Würde des Menschen besteht darin, über sich selbst bestimmen zu können. Sich anderen Menschen und deren Vorstellungen nicht unterwerfen zu müssen. Unsere Schulpflicht tritt dieses Recht mit Füssen. Sowohl Eltern als auch Schüler werden in einer Art und Weise bevormundet, die in einer aufgeklärten, mündigen Gemeinschaft eigentlich keinen Bestand haben sollte. Das sie es eben doch hat, beweist, wie sehr das Instrument Schule versagt, wenn es darum geht, verantwortungsbewusste, mündige Bürger zu „produzieren“.
Wir haben unsere Kinder immer dann „entschuldigt“, wenn sie „keine Lust“ hatten und wir sie nicht von der Notwendigkeit ihrer Anwesenheit überzeugen konnten bzw. wollten. So ist der ein oder andere Schultag ausgefallen oder eine Schulveranstaltung. Klassenfahrten waren kein Muss und die Materialschlacht haben wir auch ein wenig geschrumpft. Vom Religionsunterricht waren sie ohnehin befreit.
Sie haben so die Erfahrung gemacht, dass man nicht alles mitmachen muss und sie hatten die Möglichkeit, die Dinge zu hinterfragen.
Es gab Eltern, die uns beneidet haben, sich aber selbst nicht getraut haben, mehr eigene Entscheidungen zu treffen. Von Migranten habe ich z.B. gehört, dass sie sich nach außen lieber angepasst geben, um dem Misstrauen nicht noch mehr Nahrung zu geben - sich allerdings ständig einem Druck ausgesetzt sehen und sich bevormundet fühlen.
Andere Eltern sagten, dass wir uns das nur leisten könnten, weil die Kinder locker durch die Schule kämen. Sie hingegen müssten sich bei den Lehrern einschmeicheln damit die Kinder nicht „abgesägt“ würden.
Die Grundschulzeit war deshalb so belastend, weil gerade Kinder in diesem Alter so unglaublich leicht beeinflussbar sind und noch nicht den Mut haben sich gegen Lehrer zu stellen. Auch solche Kinder nicht, die zu Hause um alles kämpfen und gerne bis zum Umfallen diskutieren!
Wenn eine Lehrerin ein sechsjähriges Kind zur Seite nimmt und unter Druck setzt, dann hat es Angst. Bevor es sich rechtfertigen muss, macht es lieber alles, was angeordnet wird.
Überhaupt ist es leichter sich zu entziehen als zu begründen, weshalb man etwas nicht mitmachen oder anders machen möchte. Hier setzt die Schulpflicht an und verhindert ein wirkliches Verständnis von dem, was notwendig ist. Die Schulpflicht produziert „Kranke“. Wenn Kinder nicht von ihren Eltern unterstützt werden, bleibt nur „Bauchweh“. (Der ständig steigende Psychopharmaka-Konsum ist ein Indiz dafür, dass Menschen nicht in der Lage sind zu sagen, womit sie nicht klarkommen, sondern sich anpassen, bis sie krank werden.)
Unseren zivilen Ungehorsam haben wir in der Hoffnung betrieben, das man uns so lange nicht „an die Karre“ fahren kann, wie die Kinder gesund und glücklich sind und ihre Fähigkeiten den Erwartungen entsprechen.
Leider fehlt in der Gesellschaft eine Auseinandersetzung über diese Ziele. Kinder sind Wirtschaftsfaktoren und ihre Bedürfnisse bleiben immer dort auf der Strecke, wo sie mit den Bedürfnissen der Erwachsenen nicht übereinstimmen.
Die zunehmende Zahl von Menschen mit Überforderungssymptomen sowohl im physischen wie auch im psychischen Bereich sehe ich als Folge dieses nicht hinterfragten Gehorsams.
Es ist utopisch zu glauben, Kinder könnten selbstständig entscheiden. Dafür fehlt ihnen jede Grundlage. Sie können aber ihrem Gefühl folgen und wir können sie dabei unterstützen diese Gefühle ernst zu nehmen, zu verstehen um so ihre tatsächlichen Bedürfnisse von denen unterscheiden zu können, die ihnen durch andere suggeriert werden.
Wenn wir mehr beobachten als anordnen, wenn wir mehr auf Fragen warten, statt sie zu stellen, dann lernen wir unsere Kinder kennen und versuchen nicht, sie nach unseren Vorstellungen zu formen, sondern geben ihnen die Möglichkeit zu ihrer Persönlichkeit zu stehen. Nur so lernen sie verstehen.
Echte Probleme haben wir nie gehabt. Es gab die ein oder andere Bemerkung, den Hinweis auf die Schulpflicht und die Verantwortung der Schule, auf die christliche Grundlage unserer Gemeinschaft und wie wichtig das doch für die Kinder wäre.
Entweder hat es für mehr nicht gereicht oder wir hatten Glück und niemand war motiviert genug gegen uns vorzugehen, weil wir deutlich genug signalisiert haben, dass wir bereit sind, unseren Standpunkt zu verteidigen. (Hinter vorgehaltener Hand gab es sogar gerade von Grundschullehrer/innen den Hinweis, dass sie selbst nichts von den immer längeren Schulzeiten halten, das viele Kinder damit eindeutig überfordert sind und man ihnen in zunehmendem Maße die Kindheit nimmt.)
Ich denke nicht, dass es irgendwelche negativen Konsequenzen für die Gesellschaft hätte, würden sich mehr Eltern so verhalten. Es würde sogar Kapazitäten an den Schulen freisetzen, die es den Lehrern ermöglichen könnte, sich mehr um die Kinder zu kümmern, deren Eltern entweder die Zeit oder die Möglichkeit nicht haben. Oder die einfach immer das richtig finden, was gerade „in“ ist. Im Moment heißt der Trend. „Alle Kinder so früh und so lange wie möglich in eine staatliche Einrichtung!“
Ich halte das nur für die zweitbeste Lösung und hoffe, dass Eltern wieder bewusst wird welche Bedeutung sie für ihre Kinder haben.
Staatliche Schulen ja - Schulpflicht nein!
Ich bin absolut für staatliche Schulen, für ein gut durchdachtes, inhaltlich ständig hinterfragtes, breit diskutiertes und vom Selbstverständnis der Menschen getragenes Bildungsangebot, das Möglichkeiten bietet und aufzeigt.
Dafür brauchen wir aber ein anderes Verständnis von Schule und genau darum geht es mir. Schule kann nur ein Angebot sein, der Unterricht muss sich an den Kindern orientieren, damit sie sich ernst genommen fühlen und gern zur Schule gehen. Unser System ist leider von Überheblichkeit und Ignoranz geprägt und sowohl Lehrer als auch Eltern sträuben sich gegen jede noch so kleine Veränderung. Ohne die Schulpflicht, wie wir sie haben, könnte Bewegung entstehen. Mutige, engagierte Lehrer könnten Angebote machen, die über das übliche Einerlei hinausgehen und Schüler hätten die Möglichkeit zu zeigen, dass sie nicht nur uninteressiert und faul sind.
Meine Kritik richtet sich also nicht gegen die Schule als Institution, sondern gegen eine Schulpflicht, die letzlich sowieso nur eine Anwesenheitspflicht ist und den Blick auf das Wesentliche verstellt.