Pädagogische Brechstange
Schüler/innen anschreien - Ein pädagogisch sinnvolles Mittel? 19.05.2022, 20:05
Mehr als die Hälfte aller Lehrer/innen hat schon ein- oder mehrmals Schüler/innen angeschrien. Das kommunikative Mittel »Lautstärke« ist jedoch in keiner Weise dazu geeignet, Konflikte nachhaltig zu klären.
Warum man als Lehrer/in Schüler/innen anschreit
Mehr als die Hälfte aller Lehrer/innen haben schon einmal Schüler/innen angeschrien (Umfrage: Jede/r zweite Lehrerin hat schon einmal Schüler/innen angeschrien, Selbstauskunft). Aber was bedeutet »schreien«?
Die Grenzen zwischen »schreien« und »ansprechen« sind fließend:
- laut etwas zur Klasse sagen;
- freundlich »Ruhe bitte jetzt« in die Klasse rufen;
- SEHR LAUT um Ruhe bitten;
- »Bitte Ruhe« schreien;
- aus voller Kehle »HALTET ENDLICH DIE KLAPPE« brüllen
Wo hört »ansprechen« auf und wo beginnt »schreien«?
Es sind im Wesentlichen zwei Gründe, warum erziehende Personen ihre Lernlinge anschreien (sei es nun Lehrer -> Schüler, Eltern -> Kinder …):
a) Schreien als Kommunikation - "Taktisches Schreien"
Sie schreien mit der (unbewussten?) Absicht, ein Verhalten bei den Schüler/innen auszulösen oder zu ändern. Häufig geht es dabei um die Wiederherstellung der Ordnung. Beispiel:
Es ist laut. Sie sind nicht in der Lage, Ruhe und Ordnung herzustellen - und aus irgendwelchen Gründen wollen Sie keine softe Maßnahme durchführen (zwei Minuten zurücklehnen, entspannen und die Kinder von selbst runterkommen lassen).
Sie brüllen mit voller Kraft ein lautstarkes "Ruuuuuuuheeeeee!" in den Raum. Alle Schüler/innen erschrecken und verstummen.
Das funktioniert nur dann, wenn Sie dieses Mittel selten einsetzen. Ansonsten wird es sich abnutzen, und es endet damit, dass Sie schreiend inmitten einer quasselnden Schülerhorde stehen, die sich durch Ihr Rumgebrülle nicht im Geringsten stören lässt.
b) Schreien als Expression - "Therapeutisches Schreien"
Sie schreien, weil etwas aus Ihnen heraus muss, weil Ihnen der Kragen platzt, weil Sie über alle Maßen gereizt sind. Beispiel:
Die Klasse tanzt Ihnen auf der Nase rum. Einzelne Schüler/innen provozieren Sie systematisch bis aufs Messer. Sie haben Angst, ihre Autorität zu verlieren und vor der Klasse zur Witzfigur gemacht zu werden. Keine Chance, die Situation in Griff zu bekommen. Die letzte Eskalationsstufe ist erreicht, es bricht aus Ihnen hervor.
Hier geht es nicht um die Frage, ob das Schreien "funktioniert" - Sie verlieren die Beherrschung und haben keine Kontrolle mehr über die Situation.
Warum man als Lehrer/in niemals Schüler/innen anschreien sollte
Es herrscht ein breiter gesellschaftlicher Konsens darüber, dass Schreien im alltäglichen menschlichen Miteinander grundsätzlich kein adäquates pädagogisches oder kommunikatives Mittel ist, da Anschreien eine Form der psychischen Gewalt darstellt. Besonders sensibel sind Situationen, in denen Minderjährige die Betroffenen sind: Ihnen fehlt oft die Möglichkeit, sich entsprechend abzugrenzen oder (bspw. kommunikativ) zur Wehr zu setzen.
Als Lehrer/in übt man eine gesellschaftliche Funktion aus, die mit Macht behaftet ist. Das bedeutet: Lehrer/innen haben die Aufgabe und das Recht, Macht anzuwenden (z.B. wenn Schüler/innen sich nicht der Hausordnung unterwerfen). Allerdings ist diese Machtausübung gesetzlich streng reglementiert (Schulgesetz, Hausordnung usw.). Formen kommunikativer Aggression kommen in diesen Regelungen nicht vor, auch wenn es große pädagogische Freiräume gibt. "Anschreien" ist also eine illegitime Form der Machtausübung, genauer: Machtmissbrauch. Stellen Sie sich vor, ein Polizist schreit Sie an, weil Sie falsch geparkt haben.
Damit erübrigen sich Fragen nach dem pädagogischen Nutzen (»Erhöht gelegentliches Anschreien den Lernerfolg?«) oder nach der Entlastung der Lehrperson (»Sind die Schüler/innen weniger anstrengend, wenn man sie ab und zu anschreit?«). Schreien ist ein No-Go.
Ganz abgesehen von der Frage der Legitimität kostet Schreien Kraft und erzeugt schlechte Vibrationen - Einschüchterung statt Einsicht. In Anwesenheit eines aggressiv schreienden Lehrers wird ein motivierte, konstruktive Lernatmosphäre niemals aufkommen. Und wer den ganzen Vormittag Kinder angeschrien hat, wird beim anschließenden Mittagsschläfchen nichts Schönes träumen.
Warum es gerade Lehrer/innen manchmal doch tun
Lehrer/innen stehen die ganze Zeit im Auge des Sturms. Wenn 30 pubertierende, durchgedrehte, WhatsApp-verseuchte, unerzogene, widerspenstige Kinder mal ihren schlechten Tag haben oder eine Gruppe Metzger im 2. Lehrjahr beschlossen hat, den Lehrer richtig auflaufen zu lassen, dann braucht man ein dickes Fell, um nicht irgendwann zu explodieren. Die politischen, institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen tragen einen großen Teil dazu bei: zu große Klassen, schlechte Ausstattung, unzureichende Unterstützungssysteme (z.B. Schulsozialarbeiter/innen), eigenartige Schulversuche, gestresste Eltern …
Und dann platzt einem einfach mal der Kragen. Es muss raus. Das ist nicht schlimm. Schließlich sind Lehrer/innen auch nur Menschen und keine Lehrer-Roboter.
Man sollte dann nur die Größe besitzen und sich hinterher, nach dem Cooldown, bei den Schüler/innen entschuldigen und die Sache wieder geradebiegen.