Professioneller Unterricht
»Nicht persönlich nehmen« - Konflikte mit Schüler/innen entschärfen 04.11.2010, 22:12
Als Lehrer/in müssen Sie häufig Konflikte mit Schüler/innen austragen. Viele Provokationen oder Aggressionen durch die Schüler/innen beziehen sich auf Ihre professionelle Funktion (Erzieher/in, Bewerter/in ...), nicht aber auf Sie als Person. Wenn Sie sich diese Unterscheidung bewusst machen, können viele Konflikte mit Schüler/innen entschärft oder vermieden werden.
Beispiel: Pausenaufsicht und Raucherecke
Bericht eines Lehrers
Bei jeder Pausenaufsicht komme ich in einen Bereich des Schulhofs, wo Schüler/innen herumstehen und rauchen - obwohl sie sich in einem Areal einige Meter weiter aufhalten sollten. Ich sage: “Bitte geht in die Raucherzone, hinter die weiße Linie.” Die Schüler/innen sind genervt von mir. Manche schauen mich demonstrativ nicht an und latschen provozierend langsam ins Raucherareal. Manche fragen mich: “Haben Sie nichts Besseres zu tun, als sich wegen dieser drei Meter aufzuregen?” Oder: “Sie haben ja echt Probleme.”
Tatsächlich hat der Aufsicht führende Lehrer keinerlei persönliche Probleme. Er tut nur seinen Job; vielleicht ist ihm persönlich ganz und gar egal, wo die Schüler/innen rauchen - aber sein Job ist es, dafür zu sorgen, dass nur im Raucherareal geraucht wird.
Es gibt Lehrer/innen, die die Sprüche der Schüler/innen als persönliche Unverschämtheit auffassen würden und sich entsprechend erregen. Es gibt andere Lehrer/innen, die die Sprüche der Schüler/innen ausschließlich auf ihren Aufsichts-Job gemünzt sehen und gutmütig antworten würden: “Ich mache hier Aufsicht und sorge dafür, dass die Schulordnung eingehalten wird. Ich habe gar keine andere Wahl, versteht ihr?” So etwas verstehen die Schüler/innen immer. Sie sind dann nicht mehr von der Lehrer/in genervt, sondern von der Schulordnung.
Im ersten Fall bezieht die Lehrer/in das Schülerverhalten auf sich als Person, im zweiten Fall auf ihre Funktion. Da der Lehrer vor allem aufgrund seiner Funktion/Rolle (“Lehrer in Pausenaufsicht”) disziplinarisch tätig wurde, ist es sinnlos, bei provozierenden Reaktionen der Schüler/innen auf der persönlichen Ebene zu reagieren.
Die Rollen der Lehrer/in
Sie als Lehrer/in haben verschiedene, sich häufig überschneidende Funktionen gegenüber Ihren Schüler/innen bzw. Klassen. Sie treten beispielsweise in folgenden Rollen auf:
Rolle 1: Vorgesetzte/r
Sie sind verantwortlich für das Funktionieren des Unterrichts. Sie haben aufgrund Ihrer professionellen Kompetenz die Entscheidungsmacht und -pflicht zur lernförderlichen Gestaltung der aktuellen Unterrichtssituation. Zur Durchsetzung der Ordnung müssen Sie bisweilen disziplinarisch durchgreifen.
Rolle 2: Beurteiler/in
Sie bewerten die Leistungen der Schüler/innen i.d.R. durch Noten. Dadurch bestimmen Sie geradezu schicksalhaft die Zukunft der Schüler/innen mit. Das ist deshalb prekär, weil Notengebung niemals vollständig objektiv sein kann. Notengebung wird von Schüler/innen häufig als disziplinarischer Akt aufgefasst (auch wenn es gar keiner sein soll): Eine “Fünf” ist aus Schülersicht oft eine gerechte oder ungerechte Bestrafung - für Faulheit, für Dummheit, für Unaufmerksamkeit im Unterricht.
Rolle 3: Erzieher/in
Sie sind dafür verantwortlich, dass die Schüler/innen sowohl in fachlicher als auch menschlicher Hinsicht ordentlich sozialisiert werden. Gerade im Klassenkontext müssen Sie bisweilen disziplinarische Maßnahmen ergreifen, um Ihre pädagogischen Ziele zu realisieren (vgl. 5 Tipps, wie man Schüler/innen richtig bestraft).
Daneben gibt es weitere wichtige Rollen, die jedoch weniger mit der disziplinierenden Funktion assoziiert sind (Kolleg/in, Berater/in, Begleiter/in, Ansprechpartner/in o.ä.).
Disziplinierung führt häufig zu Streit
Aus rein professionellen Gründen wird Ihnen bei einer “normalen” Schulklasse nichts übrig bleiben, als bisweilen disziplinarisch aktiv zu werden: Sie reagieren auf wiederholtes Stören im Unterricht, auf wiederholtes Vergessen des Schulbuchs, auf nicht gemachte Hausaufgaben, auf “Fuck Bitch”-Schmierereien auf den Tischen, auf Lernunwilligkeit u.v.m. Ob Sie sich der Bestrafung, der Diskussion oder anderer Mittel bedienen, ist immer eine Frage der jeweiligen Situation und Ihrer pädagogischen Ausrichtung. Klar ist jedoch, dass sich nicht alle Konflikte in Ponyhofmanier regeln lassen.
Gerade pubertierende Schüler/innen reagieren häufig nicht einsichtig auf disziplinarische Maßnahmen - vor allem wenn sie den Sinn der Disziplinierung nicht einsehen:
- “Sie wollen mir nur eins reindrücken!”
- “Eine 6 ist ungerecht, ich habe die Hausaufgaben doch wirklich vergessen!”
- “Sie hacken immer auf mir herum!”
- “Ich war’s doch gar nicht!”
- usw.
Aus solchen Situationen entsteht oft eine eskalierende Spirale, wenn die Lehrer/in ihre Ansicht begründet und den Standpunkt der Schüler/in nicht nachvollziehen kann, die Schüler/in jedoch ihrerseits den Standpunkt der Lehrer/in nicht nachvollziehen kann. Die Lösung solcher Situationen ist nicht einfach und erfordert viel pädagogische Sachkenntnis und Fingerspitzengefühl (z.B. »Gewaltfreie Kommunikation«). Dieser Aspekt soll hier nicht behandelt werden (siehe aber z.B. stangl.eu: Konflikte und deren Lösung im Unterricht oder rpi virtuell: Konflikte (Sekundarstufe 1)).
Lehrer-Emotionen in Konfliktsituationen
Wir stellen uns vielmehr die Frage nach den emotionalen Reaktionen der Lehrer/in auf solche Konfliktsituationen: Das Verhalten von Schüler/innen kann schnell anklagend, beleidigend oder aggressiv wirken - oder tatsächlich sein. Anfang 2008 wurde ein Lehrer von einem Schüler als “Arschloch” bezeichnet, worauf er ihm eine Ohrfeige gab. “‘Mir ist die Hand ausgerutscht’, sagt er später. ‘So hat noch nie ein Schüler mit mir geredet!’” (Lehrerfreund: Darf ich meine Schüler ohrfeigen?).
Viele Lehrer/innen fühlen sich - wie der Lehrer im Beispiel oben - durch solches Verhalten persönlich gekränkt oder angegriffen. Wenn Ihnen dann (physisch, mental oder verbal) “die Hand ausrutscht”, wird der Konflikt auf eine persönliche Ebene transportiert und dort ausgetragen. Dies führt fast immer zu vertieften Dissonanzen oder gar heftigem Streit, verbunden mit schlechter Stimmung und Energieverlust für beide Parteien. Und: Je “persönlicher” der Streit, desto unwahrscheinlicher eine unkomplizierte Lösung.
Solche Dynamiken sind unbedingt zu vermeiden: Als Lehrer/in üben Sie professionell die oben genannten Funktionen aus. Wenn ein/e Schüler/in Sie scheinbar persönlich angreift, bezieht sich das fast immer auf eine (mehrere) dieser Funktionen. In den allermeisten Fällen leitet sich Ihre Disziplinierungsmaßnahme ja aus dieser professionellen Funktion/Rolle ab (anders ausgedrückt: Wenn Sie eine/n Schüler/in aus persönlichen Gründen disziplinieren, sollten Sie sich Gedanken über Ihre Professionalität machen).
Beispiel 1
Schüler/in: “Waaaaas? Ich stehe mündlich auf einer 5?? Sie haben wohl den Arsch offen, das lasse ich mir nicht bieten! Ich zeige Sie an!”
Die ungepflegte Wortwahl und die Drohung sind tatsächlich indiskutabel. Die Schüler/in beschimpft jedoch in Wirklichkeit nicht SIE als Privatperson, sondern SIE in der Rolle derjenigen, der/die eine ungerechte Note gegeben hat.
Beispiel 2
Lehrer/in: “Jakob, bitte wirf die Stifte von Kevin nicht mehr auf den Boden.”
Jakob: (grinst blöde; wirft zwei Minuten später wieder einen Stift auf den Boden)
Lehrer/in: “Jakob, hör sofort auf damit!”
Jakob (grinst): “Hey hey hey, bleiben Sie mal locker, ist doch nur Spaaaaaß.”
Jakob provoziert in dieser Situation, er will Sie aus der Reserve locken. Auch hier möchte er nicht SIE als Person provozieren, sondern SIE in der Rolle der Erziehungsperson. Denn in dieser Rolle müssen Sie Grenzen setzen, die der pubertierende Jakob ausloten möchte.
In beiden Situatione hat die Lehrer/in zwei Möglichkeiten:
- Sie kann sich persönlich ALS FRAU X gekränkt, beleidigt ... fühlen und ALS FRAU X reagieren.
- Sie die Kränkung, Beleidigung ... AUF IHRE ROLLE beziehen und entsprechend reagieren.
Das zweite Beispiel könnte damit folgende zwei Fortsetzungen bieten:
Beispiel 2, Fortsetzung
Schülerverhalten wird persönlich genommen:
Lehrer/in (schreit): “Du kleiner Frechdachs willst mich wohl provozieren? Na, wir werden sehen, wer hier wen provoziert!! Du kommst heute Mittag zwei Stunden in Arrest!!!”
Jakob (amüsiert): “Hey, locker, locker, es war doch nur ein Stift ... Sie haben echt schlechte Nerven.”
Schülerverhalten wird im Kontext der aktuellen Rollenverteilung interpretiert:
Lehrer/in (entspannt): “Jakob, offensichtlich willst du sehen, wie weit du gehen kannst. Lass uns nach der Stunde mal sprechen, bitte.”
Im ersten Fall geht die Lehrer/in dem Schüler auf den Leim und bringt sich als Person emotional in den Konflikt ein; auf dieser Ebene kann der Konflikt unmöglich gelöst werden. In der geschilderten Situation ist ein Kriegszustand entstanden, der nur durch Gewalt gelöst werden kann: Die Lehrer/in drückt dem Schüler Arrest und Elternbriefe rein, er zerkratzt ihr dafür später das Auto mit dem Schlüssel. Alle Beteiligten können dabei nur verlieren.
Im zweiten Fall fühlt sich die Lehrer/in nicht persönlich angegriffen (denn der Angriff gilt wohl nicht ihr, sondern ihrer Rolle) - womit sich eine wesentlich entspanntere Behandlung der Situation erreichen lässt. Die Situation lässt sich leichter klären, da die Lehrer/in keine persönliche Genugtuung braucht, sondern nur ihrer Rolle den notwendigen Abstand oder Respekt verschaffen muss.
Fazit: Professioneller Umgang mit den eigenen Emotionen
Es bringt natürlich nichts, sich zu verstellen. Wenn man ergrimmt ist, ist man ergrimmt und sollte das auch zeigen. Vielmehr stellt sich aber die Frage, ob es angebracht ist, jedesmal ergrimmt zu sein, wenn sich ein/e Pubertierende/r gegen die notwendigen disziplinarischen Maßnahmen auflehnt.
Den Schüler/innen muss zu jedem Zeitpunkt klar sein, dass Sie in erster Linie getrieben durch Ihre Rolle handeln - und Ihre persönliche Einstellung erst einmal sekundär ist. Sie vermeiden eine Menge Streit, wenn die Schüler/innen verstehen: Diese Strafarbeit dient der Aufrechterhaltung der Ordnung - und nicht der Befriedigung eines sadistischen Egos. Und Sie vermeiden eine Menge Streit, wenn Sie selbst verstehen, dass die Kritik der Schüler/innen sich häufig nicht gegen Sie richtet - sondern gegen Ihre Rolle.