Eigenartige Studie
Interaktive Whiteboards - Technikfetisch oder Unterrichtserleichterung? 23.11.2009, 14:38
SMART Technologies, Marktführer im Bereich "Interaktive Whiteboards", verkündet, dass der Einsatz Interaktiver Whiteboards Lehrer/innen massiv entlasten würde - was Unterrichtsvorbereitung, Unterrichtsdurchführung und Leistungsbeurteilung betrifft. Damit würde durch den Einsatz interaktiver Whiteboards die Burnout-Quote bei Lehrer/innen gesenkt und der Staat könnte Millionenbeträge einsparen. Das stimmt so natürlich nicht.
Interaktive Whiteboards sind umstritten: Einerseits können sie eine wirkliche Bereicherung des Unterrichts darstellen - andererseits gibt es genug Schulen, bei denen das unter großen Tönen angeschaffte interaktive Whiteboard in einer Abstellkammer verrottet (mehr: Lehrerfreund 08.10.2008: Vom Sinn und Unsinn interaktiver Whiteboards im Unterricht).
Marktführer SMART Technologies (“SMART Board”) hat bei seinen White papers ein Dokument veröffentlicht, in dem auf empirischer Basis dargelegt wird, wie der Einsatz interaktiver Whiteboards die Arbeitsbelastung von Lehrer/innen verringern und damit - so die unübersehbare Implikation - die Burnout-Quote senken kann.
(Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf das Dokument “SMART Technologies - White Paper: Reducing stress in the classroom (pdf)”.)
Belastung von Lehrer/innen ist hoch und kostet Millionen
Die Argumentation ist einleuchtend: Weltweit sind Lehrer/innen psychisch stark belastet und fühlen sich gestresst:
In Kanada fühlen sich zwischen 15 und 45% der Lehrer/innen gestresst und ausgebrannt. 30% der Lehrer/innen in Großbritannien sagen, dass sie wegen der Arbeitsbelastung keine Zeit für soziale Aktivitäten haben; 85% sagen, dass die übermäßige Arbeitsbelastung ihre familiäre Situation negativ beeinflusst. In Schottland glauben 71% der Lehrer/innen, dass ihre Arbeit ihre Gesundheit ruiniert und zu starken Stimmungsschwankungen und Schlafstörungen führt.
SMART Technologies - White Paper: Reducing stress in the classroom (pdf), S. 2 (freie und gekürzte Übersetzung: Lehrerfreund)
Die daraus resultierenden Behandlungskosten und Fehlzeiten verursachen in jedem Land jährliche Kosten in zweistelliger Euro-Millionenhöhe.
Das SMART-Dokument fokussiert bei der Nennung von Gründen vor allem auf Überforderung im Klassenzimmer: Im Unterricht müssen Schüler/innen mit unterschiedlichem Background und unterschiedlichen Leistungsniveaus gleichermaßen bedient werden. Einen entsprechenden Unterricht zu entwickeln und abzuhalten erfordert viel Zeit für die Unterrichtsvorbereitung (S. 3). In der konkreten Umsetzung werden dann doch viele Schüler/innen nicht erreicht bzw. arbeiten nicht mit.
SMART: “Interaktive Whiteboards verringern die Arbeitsbelastung von Lehrer/innen”
Und jetzt kommt das, was man schon geahnt hat, nämlich das Kapitel “Wie interaktive Whiteboards dabei helfen, die Arbeitsbelastung von Lehrer/innen zu senken” (S. 3). Dort liest man, dass Interaktive Whiteboards zu
- effizienterer (und kürzerer) Unterrichtsvorbereitung (S. 3),
- gemeinsamer Nutzung von Inhalten (S. 4),
- schülergemäßerem Unterricht (S. 5),
- besserem und flexiblerem Unterricht (S. 5f) und
- mehr Disziplin im Klassenzimmer (“Reduced anxiety”) (S. 6) führen (können).
Alle Punkte klingen höchst erfreulich. Ob sie in der Praxis zutreffen, ist zu bezweifeln (s. Whiteboard-Lügen, Beispiel-Unterrichtseinheit). Besonders deutlich zeigt sich das am letzten Punkt “Reduced anxiety”):
Gerade Berufseinsteiger haben bisweilen Probleme mit der Disziplin im Klassenzimmer. Viele Lehrer/innen fühlen sich unsicher, wenn die Schüler/innen nicht permanent auf das aktuelle Unterrichtsthema konzentriert sind. Es gibt Forschungsergebnisse, die zeigen, dass die Verwendung eines Interaktiven Whiteboards hier Abhilfe schaffen kann und die Unsicherheit der Lehrer/innen vor der Klasse mindern kann.
Die Universität Virginia berichtet aus einer Studie, dass kleinschrittig ausgearbeitete Unterrichtseinheiten (“detailed lessons”) auf dem Interaktiven Whiteboard der Konzentration der Schüler/innen aufs Unterrichtsthema zuträglich waren. Allein die Tatsache, einen genauen Unterrichtsplan zu haben, reduzierte den Stress der Lehrer/innen. Wenn Diskussionen oder Unterrichtsstörungen den geplanten Unterrichtsgang unterbrachen, konnte die Konzentration aufs Thema wieder hergestellt werden, indem die Lehrer/in durch Antippen des interaktiven Whiteboards im Unterrichtsgang fortfuhr.
SMART Technologies - White Paper: Reducing stress in the classroom (pdf), S. 6 (Hervorhebungen, freie und gekürzte Übersetzung: Lehrerfreund)
Diesen Ausführungen liegt folgendes Verständnis von effizienter Unterrichtsvorbereitung und gutem Unterricht zugrunde:
1. Powerpoint-Syndrom: Verkürzung der Zeit für Unterrichtsvorbereitung führt zu schlechterem Unterricht
Das Argument “kürzere Zeit für Unterrichtsvorbereitung” wird von der Whiteboard-Lobby gerne vorgebracht. Wer schon einmal eine Powerpoint-Präsentation gehalten hat, der/die weiß, wie es am schnellsten geht: Digitale Inhalte auftreiben (Web, DVDs ...), in Listenform in eine Folie kopieren, vorlesen. Kein Wunder, dass sich auf diese Art und Weise auch die Unterrichtsvorbereitung mit dem Interaktiven Whiteboard verkürzt. Dabei wird der Unterricht allerdings so mies, dass hier ein neuer Stressfaktor aufkommt: Schlafende oder undisziplinierte Schüler/innen.
Genau dieses Konzept ist gemeint. Das zeigt sich in der Aussage, dass Lehrer/innen sich vor der Klasse sicherer fühlen, wenn sie einen detaillierten Plan haben. Dies impliziert eine Vorstellung von Unterricht, in der ein Plan als unumstößlicher Rahmen für den Unterricht dient. Offene Unterrichtsformen sind nach dieser Darstellung die Saat der Disziplinlosigkeit.
2. Vertreter Interaktiver Whiteboards promoten frontale Konzepte
Wie schon hier gezeigt, überwiegt bei Unterrichtseinheiten mit Interaktiven Whiteboards häufig die frontale Dimension. Die Vorstellung, die Klasse wieder auf Linie zu bringen, indem man eine Folie weiterschaltet, ist didaktischer Frevel - wird aber im vorgestellten Dokument als Gewinn verkauft.
Didaktischer Schrott
Und wieder zeigt sich, dass das Problem nicht das Interaktive Whiteboard an sich ist, sondern das didaktische Konzept. Man könnte genau den gleichen Schrott über den Overhead-Projektor schreiben: Wer mit 45 Folien in den Unterricht geht, hat keine Minute der Unsicherheit. Die Folien lassen sich mit Wikipedia innerhalb von 10 Minuten generieren. Wenn die Klasse spinnt, kann man einfach eine Folie auflegen und zum Thema zurückkehren.
Die Gemeinde der Anhänger Interaktiver Whiteboards ist riesig, täglich werden es mehr. Kaum eine Schule, in der nicht irgendwo ein Interaktives Whiteboard steht. SMART und Promethean brüsten sich mit Communities, wo Lehrer/innen Inhalte austauschen. Warum aber gelangen kaum taugliche Konzepte an die Öffentlichkeit? Warum tauschen die Lehrer/innen in den Communities nur ausgefeilte Applikationen aus, deren frontaler Charakter geradezu abstoßend ist?
Die Antwort liegt auf der Hand: Kaum eine/r ist im Stande, dem Technologie-Fetisch zu widerstehen und das Interaktive Whiteboard als einen Bestandteil seines Unterrichts zu sehen - zumal es auch einfacher ist, den Schüler/innen statt konventionellen Unterrichts eine Art interaktive Sesamstraße zu bieten.
Glauben wir also nicht allen Nachrichten, die die Lobby der Whiteboard-Branche verstreut, sondern hoffen wir lieber darauf, dass Interaktive Whiteboards im Schulbetrieb möglichst bald zur Normalität werden. Dann wird auch diese Frontalspinnerei aufhören.
gefunden bei TeachersNews 23.11.2009: Elektronische Wandtafel reduziert Lehrer-Stress