10 Jahre Glaskugel
Deutsch-Abitur Baden-Württemberg: Kommentar zu den Aufgaben 2017, ein Prognöschen für 2018 29.03.2018, 00:34
Alle Jahre wieder… Deutsch-Abitur in Baden-Württemberg: Kommentar zu den Abituraufgaben von 2017 und eine Prognose für Aufgabentyp I - welche Lektüre (Homo faber, Dantons Tod, Agnes) wird für die Interpretationsaufgabe drankommen? Welche Lektüren für den Werkvergleich? Von der Hellseherin Db (JKG Bruchsal).
Eigentlich ist eine Prognose seit Einführung der neuen Aufgabentypen (siehe dazu von 2014: (fast) keine Prognose für 2014, stattdessen Kommentar zu den neuen Aufgabentypen) in der bisherigen Form obsolet. Aber ein Abitur-Kommentar beim Lehrerfreund ohne wenigstens ein kleines Prognöschen, das geht nach wie vor nicht … direkt zur Prognose nach unten springen
Deutsch-Abitur Baden-Württemberg 2017: Kommentar zu den Aufgaben
Die Angleichung der Anforderungen im allgemein bildenden und beruflichen Gymnasium war das Ziel der Aufgabentypenänderung ab 2014. Im Abitur 2017 sind nicht nur die Aufgaben I, II und III, sondern nun auch Aufgabe IV zumindest durch das Dossier in beiden Schulformen identisch. Auf weiter bestehende Unterschiede wird in der folgenden Detailbesprechung kurz eingegangen.
In den kommenden Jahren wird es Änderungen in einigen (Teil-)Aufgaben geben, dazu gibt es im jeweiligen Abschnitt vorab einen kurzen Hinweis.
Aufgabe I: Interpretation von „Homo faber“ sowie Vergleich von Walter Faber und Georg Danton
Kommentator Julian meint:
"Das Prognöschen war nicht schlecht: Tatsächlich kam ein Ausschnitt aus Homo faber dran und tatsächlich ging es ein Stück weit um das Thema “Identität und Rolle” - wenn auch die Frauen mal wieder gar keine direkte Rolle spielten, weder in der Textstelle, noch im Vergleichsteil.“
Danke - und Recht hat er:
Auch in 2017 war wieder keine der Frauenrollen im Mittelpunkt, „Agnes“ nicht mal als Lektüre dabei … Bis auf das Abitur 2014, wo Paare untersucht wurden, standen immer die männlichen Hauptfiguren im Focus.
Nun also Walter Faber. In der ersten Teilaufgabe sollte sein rhetorisch eindrucksvoller, langer Gedankenfluss interpretiert werden, in welchem er „Schwangerschaftsunterbrechung“ historisch-gesellschaftlich und medizinisch-technisch reflektiert und deren Notwendigkeit darlegt - wohl, um sich selbst davon zu überzeugen.
Diese vor allem technisch begründete, rationale Haltung ist eine Hauptfacette von Walter Fabers Selbstbild, welches durch die Begegnung mit seiner Tochter und dem Wiedersehen mit deren Mutter Hanna erschüttert wird.
Die Textstelle bot also bereits eine gute Grundlage für die Bearbeitung der zweiten Teilaufgabe. Zu vergleichen waren die Selbstbilder Walter Fabers und Georg Dantons sowie deren Auswirkungen. Die Aufgabenstellung ähnelte der an beruflichen Gymnasien von 2013 (im allgemein bildenden Gymnasium galten noch Kafka & Co.): Statt „Selbstbilder“ hieß es „Weltsicht“ von Faber und Danton, damals wie heute ein mit guter Kenntnis der Lektüren ergiebiger Vergleich nur zwei der drei Werke.
Aufgabe II: Vergleichende Interpretation zweier Gedichte, Leitthema „Natur und Mensch in der Lyrik vom Sturm und Drang bis zur Gegenwart“
Das verbindende Thema der beiden Naturgedichte war eine Jahreszeit - Herbst. Beide stammen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und sind stilistisch recht ähnlich, wobei das expressionistische „Der Herbst des Einsamen“ von Georg Trakl für Schüler:innen sicher schwieriger zugänglich war. Hier wird in vielen Metaphern Vergänglichkeit geschildert, die düstere Stimmung bis zum Schluss durchgehalten.
In den Quartetten des Sonetts „Herbstgefühl“ von Georg Brittin schildert das lyrische Ich zunächst positive, festlich wirkende Herbst-Beobachtungen: die Fülle der Früchte und das goldene Licht, aber auch der Zug der Vögel, man spürt eine gewisse Sehnsucht nach der Ferne. Die Terzette setzen Mahnungen zu Bescheidenheit dagegen, das lyrische Ich rät sich selbst zu einfachem Genuss mit Blick auf das (Lebens?)-Ende: „noch ist der Krug nicht leer.“ Die strenge Form des Sonetts korrespondiert dabei mit der geforderten Selbstbeschränkung: Damit zufrieden zu sein, was man (noch) hat.
Die Thematik der Gedichte war in 2017 etwas offensichtlicher als im Jahr davor, sprach aber wohl eher nicht die jungen, gerade erst in der Frühlingsblüte stehenden Abiturient:innen an.
Aufgabe III: Interpretation eines Kurzprosatextes
Wie alle Texte seit Einführung dieses Aufgabentyps hatte auch „Auf der Felsenkuppe“ von Christoph Meckel aus dem Jahr 1960 parabolische Züge. Der Ich-Erzähler „war es müde geworden, allein zu sein“, da aber seine Versuche zu kommunizieren nicht zufriedenstellend erwidert werden, wandert er aus der „Großstadt (…) auf die Halbinseln.“ Auch hier reagieren trotz allen Winkens und Signalisierens die Schiffe nicht auf ihn. Daher erfindet er sich „einen weißen Passagierdampfer“, doch diese Fiktion stellt ihn nicht zufrieden und misslingt. So kehrt er in die Großstadt zurück, stellt jedoch fest, dass er „eine andere Sprache lernen“ und sich wohl anpassen muss.
Wer sich auf die anschaulich geschilderte, immer surrealer werdende Handlung und die recht offensichtliche Licht- und Wassersymbolik einließ, konnte zu ansprechenden Deutungen kommen, z.B. zur Reflexion von Schreibprozessen oder zur Bedeutung von Kommunikation für das Verhältnis Individuum-Gesellschaft.
Aufgabe IV: Essay
Zum ersten Mal gab es in diesem Aufgabentyp dasselbe Dossier an allgemeinbildenden und beruflichen Gymnasien. Weiterhin etwas unterschiedlich geblieben ist die Aufgabenstellung. Sie lautet (noch, siehe oben) an allgemein bildenden Gymnasien lediglich „Verfassen Sie einen Essay zu diesem Thema“, an beruflichen Gymnasien müssen zunächst Abstracts zu ausgewählten Materialien des Dossiers verfasst werden, die in die Bewertung eingehen.
Nach dem schön doppeldeutigen „Macht Musik“ (2014, berufliche Gymnasien) und dem eher politischen Thema „Macht des Sports“ (2015, allgemein bildende Gymnasien) ging es nun für alle um „Die Macht der Sprache“. Daraus könnte doch eine Reihe werden :-) : „Macht der Bilder“, „Macht der Gewohnheit“, „Wissen ist Macht“ etc.pp.
Das Dossier zu „Die Macht der Sprache“ bestand aus fünf längeren, recht anspruchsvollen Texten; Aphorismen, Karikaturen oder Statistiken fehlten. Die Bandbreite ging dabei von Bertolt Brechts Betrachtungen zum Nazi-Vokabular über Euphemismen im Wirtschaftsjournalismus sowie „gendersensibler Sprache“ bis zu „Metaphern“ mit „politischer Relevanz“. Diese tief schürfenden lingustischen Betrachtungen in einen essayistischen, also eher lockeren Schreibstil zu gießen fiel sicher nicht leicht; die Gefahr, in erörterndes Schreiben zu verfallen, war groß.
Aufgabe V: Analyse und Erörterung nicht fiktionaler Texte
In diesem bewährten Aufgabentyp gab es weiterhin unterschiedliche Konkretisierungen:
Im an allgemein bildenden Gymnasien vorgelegten Text „Wir Tugendterroristen“ von Bernhard Pörksen aus „Die Zeit“ ging es um die „Daueraufregung“, den „permanenten Skandal(…)“ in der „massenmedial geprägten Mediendemokratie“. Ein aktuelles Thema, dessen Erörterung (Bewertungsschwerpunkt) sich allerdings nicht nur im Erzählen weiterer Beispiele von Shitstorms erschöpfen sollte, sondern z.B. für ein bewusstes Medien-Nutzen und eigenes Mit-Gestalten plädieren konnte.
Der an beruflichen Gymnasien vorgelegte Text „Sagen Sie alle Termine ab!“ von Patrick Spät, ebenfalls aus „Die Zeit“, war ansprechend und pfiffig formuliert. Er sprach den über der Abiturklausur schwitzenden Schüler:innen sicher aus der Seele: „Warum mühen wir uns so ab, statt das Leben zu genießen?“
Die Aufgabenstellung war hier drei- statt zweiteilig und auch innerhalb der drei Teilaufgaben kleinschrittiger formuliert: Nach der Herausarbeitung der Aussagen und ihrer Gestaltung sollte sich kritisch mit den Argumenten des Autors auseinander gesetzt werden. Die dritte Teilaufgabe bildete den Schwerpunkt, es sollte erörtert werden, inwieweit Leistung notwendig für ein erfülltes Leben ist.
Deutsch-Abitur Baden-Württemberg: ein Prognöschen für 2018
Um Missverständnissen vorzubeugen: Eine Prognose wird seit nunmehr 10 Jahren nur für die Aufgaben zu den jeweiligen Pflichtlektüren versucht. Seit Abschaffung der Gestaltenden Interpretation ab 2013 ist nur noch ein Prognöschen für Aufgabentyp I (Interpretation und Werkvergleich) möglich.
Bevor wir in die Glaskugel schauen, betrachten wir eine kleine Statistik zur Wahl der Textausschnitte aus den aktuellen Lektüren und den Vergleichswerken:
2013 „Homo faber“, 2er-Vergleich mit „Dantons Tod“
2014 „Dantons Tod“, 3er-Vergleich
2015 „Homo faber“, 3er-Vergleich
2016 „Agnes“, 3er-Vergleich
2017 „Homo faber“, 2er-Vergleich mit „Dantons Tod“
2018 ?? (zum letzten Mal „Dantons Tod“, „Homo faber“ und „Agnes“)
5x „Homo faber“ (davon 3x als Textausschnitt)
5x „Dantons Tod“ (davon 1x als Textausschnitt)
3x „Agnes“ (davon 1x als Textausschnitt)
„Homo faber“ und „Dantons Tod“ waren bisher immer dabei, zumindest als Vergleichswerk in der zweiten Teilaufgabe - sich darauf vorzubereiten lohnt also.
Ein Ausschnitt aus dem Drama kam allerdings erst einmal, ebenfalls nur einmal ein Ausschnitt aus „Agnes“. Daher liegen diese beiden Werke gleichauf in den Lehrerzimmer-Wettbüros für Teilaufgabe eins (Interpretation).
Für einen Ausschnitt aus „Dantons Tod“ spricht die Ergiebigkeit der sprachlichen Gestaltung, für „Agnes“ die leichtere Zugänglichkeit. Meine Lieblingsstelle findet sich in Kapitel 11, als der Ich-Erzähler das Gesicht der schlafenden Agnes betrachtet. Es „schien mir fremd, unheimlich, und doch war es mir, als sähe ich es wirklicher als jemals zuvor, unmittelbar“. In diesem „berauschend schöne(n)“ Moment wird ihm wohl bewusst, dass er nun ihr Schöpfer ist, quasi allmächtig. Direkt spricht er das erst im folgenden Kapitel 12 aus.
Der Dauer-Tipp für den Vergleichsaspekt (zweite Teilaufgabe) bleibt „Identität und Rolle“ (vgl. die letztjährige Prognose).
Aber auch „Fiktion und Wirklichkeit“ liegt gut im Rennen, z.B. „…welchen Umgang Georg Danton, Walter Faber und der Ich-Erzähler aus „Agnes“ mit Realität pflegen.“; mögliche Textstellen sind z.B. IV,3 aus „Dantons Tod“ (in der Conciergerie, Dantons Reaktion auf Camilles Alptraum) oder aus „Agnes“ das oben beschriebene Kapitel 11 oder Kapitel 27 (Weihnachtseinkäufe für das fiktive Kind Margret).
Der Aspekt „Tod“ liegt ebenfalls nahe - für mich zu nahe; in den einschlägigen Lernhilfen wird dieser Vergleichsaspekt ausführlich durchexerziert, in einem Nachtermin soll er schon gekommen sein. Vielleicht ja nun in dieser Variante: „… wie Georg Danton, Walter Faber und Agnes mit der eigenen Sterblichkeit umgehen.“ Damit wäre immerhin einmal eine weibliche Hauptfigur mit im Boot; mögliche Textstellen sind z.B. Kapitel 6 aus „Agnes“ (Gedanken zu Stonehenge, Erzählen aus ihrer Kindheit) oder Kapitel 16 (Spaziergang über den Friedhof im Nationalpark) sowie IV,3 aus „Dantons Tod“ (in der Conciergerie, Dantons Vorwegnahme des Totseins).
Wie immer natürlich alles ohne Gewähr - toitoitoi und viel Erfolg!
Der letzte Hinweis betrifft ein mögliches Ende der Wahrsagerei anno 2020:
Ab Abitur 2021 (= die Schüler:innen, die im Schuljahr 2019/20 in die Kursstufe eintreten) wird sich die Struktur der gymnasialen Oberstufe in Baden-Württemberg am allgemein bildenden Gymnasium grundlegend ändern. Für das Fach Deutsch gilt dann:
- Deutsch kann gewählt werden als Leistungsfach (fünfstündig mit dem bisherigen Bildungsplan) oder als Basisfach (dreistündig, ein neuer Bildungsplan muss erstellt werden).
- Deutsch bleibt verpflichtendes Abitur-Prüfungsfach. Die Prüfung wird jedoch schriftlich (im Leistungsfach) oder mündlich (im Basisfach) erfolgen.
Quelle und weitere Informationen: Weiterentwicklung der gymnasialen Oberstufe - Schreiben des Kultusministeriums Baden-Württemberg vom 10.10.2017 (PDF)