Übertrittsempfehlung für Viertklässler
Eltern schätzen ihre Kinder bei Schulwahl falsch ein 11.08.2011, 09:49
Wenn Eltern selbst entscheiden können, auf welche Schulart ihr Kind nach der Grundschule wechselt, liegen sie häufig falsch. Das Bürgertum beispielsweise schickt seine Kinder gerne aufs Gymnasium - auch bei unterirdischen Leistungen.
In vielen Bundesländern trennt sich nach der 4. Klasse die Spreu vom Weizen - soziale Mülltonne oder Gymnasium? In einigen Bundesländern können die Eltern aktiv mitentscheiden. Nach einer Studie des Sozialwissenschaftlers Dr. Jörg Dollmann scheint eine verbindliche Schulempfehlung seitens der Schulen und Lehrer/innen wesentlich sinnvoller zu sein:
Dollmann hat in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG geförderten Projekt 708 Kölner Grundschulkinder in zwei Kohorten untersucht – just vor und nach der Einführung einer verbindlichen Übertrittsempfehlung durch das Land Nordrhein-Westfalen im Jahr 2006. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Übertrittsverhalten ohne eine verbindliche Empfehlung stärker von teilweise unrealistischen, teilweise zu zurückhaltenden elterlichen Wünschen geprägt ist und die tatsächliche Leistungsfähigkeit der Kinder eher in den Hintergrund tritt.“
Die Eltern in bildungsfernen Schichten trauen demnach ihren Kindern eher weniger zu und schicken sie trotz guter Leistungen auch dann auf die Realschule, wenn das Gymnasium angemessen wäre. Eine Ausnahme bilden türkische Familien, die nach einer Studie ebenfalls von Dollmann eine besonders hohe "Bildungsmotivation" haben:
Bei gleichen Leistungen und vergleichbarem sozialen Hintergrund wechseln türkischstämmige Grundschulkinder häufiger auf anspruchsvollere Schultypen, als Kinder ohne Migrationshintergrund. Vor allem die Hauptschule wird seitens der Türkischstämmigen möglichst gemieden, sofern es die Leistungen der Kinder zulassen: So ist die Chance, auf die Realschule anstatt auf die Hauptschule zu wechseln für Türken etwa dreimal höher als für Grundschulabgänger ohne Migrationshintergrund.
Genau das gegenteilige Bild zeigt sich bei "Familien aus dem höheren Bildungsumfeld": Viele Eltern schickten ihre Kinder aufs Gymnasium - obwohl die Leistungen unterdurchschnittlich waren.
Jörg Dollmann folgert aus diesen Befunden: „Die verbindliche Übertrittsempfehlung trägt dazu bei, die sozialen Herkunftsunterschiede bei der Bildungsentscheidung zu verringern.“ Ganz verschwänden die Unterschiede allerdings nicht, denn auch das Urteil der Lehrkräfte sei in gewissem Maße sozial selektiv. „Es wurde aber mittlerweile durch mehrere Studien belegt, dass sich die Bildungsentschei- dungen der Eltern noch stärker an der sozialen Herkunft orientieren als die Empfehlungen der Lehr- kräfte“, so der Sozialwissenschaftler weiter.
Lehrer/innen sind mit dem Phänomen vertraut: Ewige Streitereien mit elitaristischen Vätern und Müttern, die darauf beharren, dass ihr Kind eine wahre Intelligenzbombe ist. Damit dürfen sie sich in Zukunft wohl häufiger herumschlagen:
In der Bildungspolitik ist die verbindliche Übertrittsempfehlung derzeit trotzdem auf dem Rückzug, wie nicht nur die Pläne Baden-Württembergs zeigen: Auch Nordrhein-Westfalen hat die 2006 eingeführte verbindliche Übertrittsempfehlung im vergangenen Jahr wieder abgeschafft.