Fehlendes Unrechtsbewusstsein
Kopien aus Schulbüchern - Sind Lehrer Gesetzesbrecher/innen? 25.10.2009, 22:57
Keine Lehrer/in, die nicht in den letzten zwei Wochen 300 Kopien aus dem Kopierer gelassen hat. Es geht ja auch nicht anders, möchte man denken. Die Hersteller von Lehrmitteln (vulgo: "Schulbuchverlage") fühlen sich bedroht und starten in der Schweiz die Kampagne "Fair kopieren" - in deren Rahmen u.a. Warn-Aufkleber auf den Schulkopierern angebracht werden sollen. Einige Überlegungen zur Gesetzeslage und zum fehlenden Unrechtsbewusstsein der Lehrer/innen.
Lehrer/innen kopieren viel
Es ist ein offenes Geheimnis: Lehrer/innen kopieren einen Großteil ihrer Arbeitsblätter und Unterrichtsmaterialien aus Schulbüchern, die den Schüler/innen nicht zur Verfügung stehen. Die morgendlichen Schlangen vor dem Kopierer im Lehrerzimmer sprechen für sich. Und jede Schulleitung kann ein Lied davon singen, dass viel zu viel kopiert wird.
Warum müssen Lehrer/innen so viel kopieren?
Es gibt drei Gründe, warum Lehrer/innen uferlos kopieren:
- In (geliehene) Schulbücher darf man nicht reinmalen.
- Bei der Bearbeitung von Texten, Karten, Tabellen, Bildern ... ist es eigentlich immer sinnvoll, wenn die Schüler/innen Notizen oder Markierungen direkt im Arbeitsmaterial machen. So werden die Inhalte elaboriert und fachspezifische Bearbeitungsstrategien geübt. Da das bei Schulbüchern nicht geht, gibt es nur zwei Lösungen: Uneffizienten Unterricht machen oder kopieren.
- Das in der Klasse vorhandene Schulbuch ist “ungeeignet”.
- “Ungeeignet” bedeutet: Den didaktisch-fachlichen Ansprüchen der Lehrer/in nicht angemessen. Gerade seit der Umstellung von Lerninhalten auf Lernfelder oder Kompetenzen haben die Schulbuchverlage - mehr oder weniger im Auftrag der Bildungspolitik - eine Menge unzumutbaren Schrott auf den Markt geworfen. Man kann es auch anders sehen: Es gibt für jedes Fach einige wenige wirklich brillante Lehrwerke, die die Konkurrenz weit ausstechen. Auch hier gibt es nur zwei Auswege: Schlechtes bzw. (subjektiv) ungeeignetes Material benutzen - oder eben kopieren.
- In der Klasse gibt es für das Fach kein Schulbuch.
- Der seltenste Fall. Trifft v.a. auf exotische und Nebenfächer zu. In einigen Fällen reicht der Buchbestand nicht für alle Klassen aus. Sonderfall: Oft sind Schüler/innen v.a. der Unterstufe an langen Tagen auch gewichtsmäßig überfordert, so dass Nebenfachlehrer/innen ihnen zugestehen, das Buch nicht immer mitschleppen zu müssen.
Ist Kopieren für den Unterricht illegal?
Das Unrechtsbewusstsein der kopierenden Lehrer/innen ist erstaunlich gering ausgeprägt. Denn einerseits geht man davon aus, dass die Schulbuchverlage im ewig rollenden Bildungszyklus eine sichere Kundschaft haben (und wenn man die Mega-Stände von Cornelsen, Schroedel & Co auf den Bildungsmessen betrachtet, drängt sich dieser Verdacht geradezu auf); andererseits weigert man sich intuitiv, sich schlecht zu fühlen, wenn man für lernende Kinder (raub-)kopiert. Kurz: Es gibt wahrscheinlich deutschlandweit keine einzige Lehrperson, die wegen ihrer Kopieraktivität ein schlechtes Gewissen hat.
Diese Einstellung entspricht nicht der aktuellen Rechtslage. Kopieren aus Schulbüchern ist (im Gegensatz z.B. zum Kopieren aus Tageszeitungen) nur in sehr begrenztem Rahmen gestattet, den wahrscheinlich die meisten Lehrer/innen schon in den ersten Schulwochen gesprengt haben. Im “Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte” (UrhG) ist unter §53(3) zu lesen:
Zulässig ist, Vervielfältigungsstücke von kleinen Teilen eines Werkes, von Werken von geringem Umfang oder von einzelnen Beiträgen, die in Zeitungen oder Zeitschriften erschienen oder öffentlich zugänglich gemacht worden sind, zum eigenen Gebrauch
1. zur Veranschaulichung des Unterrichts in Schulen, in nichtgewerblichen Einrichtungen der Aus- und Weiterbildung sowie in Einrichtungen der Berufsbildung in der für die Unterrichtsteilnehmer erforderlichen Anzahl oder
2. für staatliche Prüfungen und Prüfungen in Schulen, Hochschulen, in nichtgewerblichen Einrichtungen der Aus- und Weiterbildung sowie in der Berufsbildung in der erforderlichen Anzahl herzustellen oder herstellen zu lassen, wenn und soweit die Vervielfältigung zu diesem Zweck geboten ist. Die Vervielfältigung eines Werkes, das für den Unterrichtsgebrauch an Schulen bestimmt ist, ist stets nur mit Einwilligung des Berechtigten zulässig.
UrhG §53, Hervorhebungen Lehrerfreund
Außerdem ist die digitale Speicherung von kommerziellen didaktischen Materialien quasi ausgeschlossen, die Verbreitung sowieso (mehr: Lehrerfreund 01.12.2008: Wie viel Lehrer/innen fotokopieren dürfen; detaillierter, aber schwerer verständlich: lehrerfortbildung-bw.de: Urheberrecht in der Schule (linke Navigation beachten!)).
Sind also alle Lehrer/innen “Diebe”?
20min.ch hat einen Artikel mit dem Titel Urheberrecht - Lehrer sind Diebe veröffentlicht. Dort wird der Schaden für die Schweizer Lehrmittelverlage durch “Raub”-Kopieren auf 50 Millionen Franken beziffert. Das Problem sei struktureller Natur: In vielen Schulen seien “die Kopierbudgets der Schulen höher als die Kredite für neue Lehrmittel”.
Die Verlage, deren Werke kopiert werden, zeichnen ein dramatisches Bild:
An einzelnen Schulen werde wild draufloskopiert - und die Lehrpersonen würden dafür von den Schulbehörden noch gelobt, weil sie damit Kosten sparten, stellte Irene Schüpfer vom Verlag Klett und Balmer AG fest. Das Unrechtsbewusstsein sei nicht sehr gross.
Für die Lehrmittelverlage stelle die Kopierwut jedoch eine «existenzielle Bedrohung» dar.
Was die Folgen einer "existenziellen" Bedrohung der Schulbuchverlage sind, ist klar: Ihre Arbeit lohnt sich nicht mehr, damit werden die hergestellten Unterrichtsmaterialien und Schulbücher schlechter - und letztlich gibt es nichts mehr, was sich überhaupt zu kopieren lohnt.
Doch das Argument hinkt, wenn man sich die Umsätze der großen Schulbuchverlage ansieht: Umsatz und Gewinn gerade der Klett-Gruppe sind äußerst befriedigend (Bilanzdaten der Klett-Gruppe 2006 als pdf). Die Kopiererei in Schulen ist natürlich einkalkuliert, da sei seit Beginn der Xerox-Ära betrieben wird.
Die Urheberrechtsinhaber zeichnen ein wesentlich dramatischeres Bild, so der Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband SBVV:
Lehrmittelverlage sind vermehrt damit konfrontiert, dass immer häufiger ganze Schulbücher kopiert und eingescannt oder aus verschiedenen Lehrmitteln neue zusammengestellt und im Internet veröffentlicht werden.
Das ist natürlich eine maßlose Übertreibung. Schlimmstenfalls findet man in passwortgeschützten Tauschbörsen mal einen Schulbuchscan oder ein Arbeitsblatt mit einer eingescannten Weltkarte aus einem Schulbuch. Am Rande: Von Lehrer/innen selbst zusammengestellte, eingescannte Schulbücher wären für andere Lehrer/innen von außerordentlicher Nützlichkeit. Aber es gibt sie eben nicht (fast ist man versucht zu sagen: leider).
Die “Fair-Kopieren”-Kampagne
Nun hat also der SBVV die Kampagne “Fair kopieren! Urheberrechte achten” (fair-kopieren.ch) gestartet:
Mit einem Brief werden zunächst sämtliche Schulen der Deutschschweiz über die Ziele der Kampagne informiert und mit Plakaten und Aufklebern beliefert. Erreicht werden soll damit, dass die Plakate mit den einfachen Kopier-Regeln sowie die Aufkleber an ihren Kopiergeräten angebracht werden, damit unsere Botschaft “Fair kopieren! Urheberrecht achten” so gut als möglich verbreitet wird. Die F.A.I.R.-Regel wird künftig auch in allen neuen Unterrichtsmaterialien der Deutschschweizer Verlage publiziert.
Für deutsche und österreichische Lehrer/innen ist zu beachten, dass die Informationen auf der Kampagnenwebsite fair-kopieren.ch sich nicht mit dem geltenden deutschen Recht decken.
Und nun? Nichts mehr kopieren?
Es hilft alles nichts: Wer als Lehrer/in illegal mehr als ein bestimmtes Kontingent aus Schulbüchern kopiert, ist eine Gesetzesbrecher/in. Dass den Lehrer/innen dabei das Unrechtsbewusstsein fehlt, ist kein Wunder. Schließlich handelt es sich bei der Kopiererei nicht um ein Privatvergnügen (wie es bspw. bei illegalen Software- oder Musik-Downloads der Fall ist), sondern um ein Engagement für besseren Unterricht. Andererseits können die Schulbuchverlage auch keinen Freibrief für wildes Kopieren ausstellen - denn dann wäre hier der erste Punkt, an dem die Schulen sparen würden.
Dass die Hersteller von Lehrmitteln den Lehrer/innen nun ein Unrechtsbewusstsein einbläuen wollen, ist jedenfalls ein sinnloses Trachten. Große Klassen, abstrakte Lehrpläne, inkompetente Schulentwicklungskonzepte - kein einziger Lehrer wird einsehen, dass er dazu auch noch auf Kosten seines eigenen Unterrichts ein paar Kopier-Dollars für seinen Arbeitgeber einsparen soll. Gefragt sind viel mehr Politik und Rechtsprechung, die Lösungen finden müssen - im Sinne einer maximalen Bildungsqualität.