Böse Medien - oder gute Medienpädagogik?
Die Wahrheit über Manfred Spitzers ‘Digitale Demenz’ 27.09.2012, 09:15
Die Beschäftigung mit digitalen Medien macht dumm, sagt Manfred Spitzer. Es ist völlig gleichgültig, ob er damit Recht hat. Denn es gibt kein Leben ohne digitale Medien mehr. Also müssen wir an die Medienpädagogik glauben und lernen, damit umzugehen.
Manfred Spitzer und die Medien
Der Gehirnforscher Prof. Manfred Spitzer (Wikipedia) ist Pädagog/innen vor allem wegen seiner Publikationen zum Thema Lernen / Neurodidaktik bekannt. Eines seiner wichtigsten Bücher für Lehrer/innen und sonstige Pädagog/innen ist Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Definitiv gehört Manfred Spitzer zu den ganz großen Experten auf diesem Gebiet.
Dabei ist die Neurodidaktik umstritten. Zwar arbeitet sie mit eindeutig messbaren, empirisch belegten Erkenntnissen (wie reagiert das Gehirn auf bestimmte Einflüsse). Forscher/innen mit eher pädagogischer Ausrichtung kritisieren jedoch, dass Reiz-/Informationsverarbeitung ein höchst individueller Prozess ist, Verallgemeinerungen könnten gerade bei komplexem Input (wie es bei vielen digitalen Medien der Fall ist) nicht gültig sein.
2007 hat Manfred Spitzer die Welt der Pädagog/innen mit Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft polarisiert, u.a. durch Aussprüche wie diese:
Wer kleine Kinder hat, kann dafür sorgen, dass sie möglichst gar nicht mit Bildschirmen in Kontakt kommen. [...] Zwölfjährigen Buben würde ich keinen Zugang zum Internet verschaffen, zwölfjährigen Mädchen durchaus. [...]
Ich selbst habe fünf Kinder und keinen Fernsehapparat. Vielleicht liegt diese an meinen drei wissenschaftlichen Aufenthalten in den USA. Dort hatte ich Gelegenheit zu erleben, was es heißt, in einer Gesellschaft zu leben, in der Gewalt an der Tagesordnung ist [...]
Manfred Spitzer (2007): Vorsicht Bildschirm!, S. IIIf
Spitzer 2012: "Digitale Demenz"
Nun hat Spitzer nachgelegt: Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen heißt sein im August 2012 erschienenes Buch. Zentraler Tenor ist auch hier die Kritik an digitalen Medien - sie nähmen uns die geistige Arbeit ab, und das sei gefährlich. Spitzers Forschungsergebnisse zeigen laut Buch: Digitale Medien machen süchtig - und das ist deshalb so gefährlich, weil die Benutzung digitaler Medien auch dumm mache: das Gedächtnis lässt nach, Nervenzellen sterben ab - und die Zellen, die nachwachsen, sterben auch gleich wieder ab, weil sie nicht benutzt werden (schließlich ist jegliche kognitive Tätigkeit ausgelagert, sie wird übernommen von Smartphones, Suchmaschinen und Navigationsgeräten). Vor allem Kinder und Jugendliche sind nach Spitzer betroffen: Die Folge des Umgangs mit digitalen Medien sind
Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und sozialer Abstieg. Spitzer zeigt die besorgniserregende Entwicklung und plädiert vor allem bei Kindern für Konsumbeschränkung, um der digitalen Demenz entgegenzuwirken.
Manfred Spitzer (2012): Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen(Klappentext)
Kurz: "Wir googlen uns blöd." (ftd-Interview mit Manfred Spitzer)
In den Medien fraternisiert man sich aktuell dadurch, dass man Manfred Spitzer kollektiv zum populistischen, reaktionären Hexenjäger erklärt - wobei sich auch durchaus renommierte Personen wie der Wissenschaftsjournalist Werner Bartens extrem negativ zum Buch äußern.
Vor allem die Generation Online tut sich hier lautstark hervor - impliziert Spitzer doch, dass gerade sie wegen ihrer ausufernde Beschäftigung mit digitalen Medien am Rande der digitalen Demenz stehen. Das Geschrei der Betroffenen ist natürlich groß und oft nicht weniger populistisch als es die Ausführungen Spitzers vermeintlich sind. Dabei bietet Manfred Spitzer eine perfekte Angriffsfläche, da er in seinen Ausführungen durchaus zu Dogmatismus neigt. Doch er glaubt an das, was er sagt, deshalb ist die Bezeichnung "Angstmacher" wahrscheinlich übertrieben.
Damit befindet sich die Diskussion in einer Sackgasse. Die einen finden es gut ("Medien machen dumm"), die anderen schlecht ("Spitzer spinnt"), über die Inhalte wird kaum mehr diskutiert. Wir dürfen uns auch fragen, wer von den Journalist/innen und Blogger/innen, die über Spitzer (positiv oder negativ) schreiben, das Buch überhaupt gelesen hat.
Stellungnahme des Landesmedienzentrums Baden-Württemberg
Das Landesmedienzentrum Baden-Württemberg hat eine überaus harsche Stellungnahme zu Manfred Spitzers Thesen veröffentlicht:
Digitale, interaktive Medien öffnen die Tore zur Welt, stärken die Menschen und erweitern ihre Möglichkeiten der (Mit-)Gestaltung. Wir meinen: Wer ihre positiven Eigenschaften nutzt, bereichert sein Leben in vielerlei Hinsicht, unter anderem sozial, kreativ und kommunikativ. [...]
Wichtig ist allerdings, dass die Menschen sich die Medien zu Dienern und gekonnt genutzten Werkzeugen machen und sich nicht von ihnen dominieren lassen. Dazu trägt Medienbildung entscheidend bei.
LMZ Baden-Württemberg: Stellungnahme zu Manfred Spitzers Thesen (CC BY-SA 2.0 DE)
Während die Medienpädagogik den Menschen einen sinnvollen Umgang mit Medien vermitteln möchte, plädiert Manfred Spitzer für "Konsumbeschränkung" oder "Dosisbeschränkung". Aus Sicht der Medienpädagog/innen begeht Spitzer damit einen kapitalen Fehler: Er ignoriert, dass Lernen und Persönlichkeitsentwicklung hochgradig individuelle Prozesse sind. Das bringt die Pädagog/innen auf die Palme:
Die Medienwirkungsforschung geht schon längst nicht mehr von einfachen Ursache-Wirkungs- Annahmen aus wie es Manfred Spitzer tut. Längst ist wissenschaftlich erwiesen, dass jeder Mensch Medien bzw. Medieninhalte anders verarbeitet. Es gibt nicht sozusagen die "leere Schale" Kind, in die etwas hineingegossen wird und dann kommt bei jedem Kind das Gleiche heraus an Wissen, an Haltungen, an Verhaltensweisen. Es ist vielmehr die Frage: was macht der Mensch mit den Medien bzw. den Medieninhalten. Es ist die Frage des "wie werden Medien genutzt?", welche Vorerfahrungen gibt es, in welchem persönlichen und sozialen Zusammenhang steht diese Mediennutzung und durchaus auch wie lange erfolgt eine Mediennutzung?
LMZ-Stellungnahme zu Manfred Spitzers "Digitale Demenz" (PDF-Version), Seite 4 (CC BY-SA 2.0 DE)
Zentraler Streitpunkt ist damit die Frage: Medienerziehung oder Abstinenz? Für die Medienpädagog/innen vom LMZ ist die Antwort klar:
Spitzer fordert: "Beschränken Sie bei Kindern die Dosis, denn dies ist das Einzige, was erwiesenermaßen einen positiven Effekt hat. Jeder Tag, den ein Kind ohne digitale Medien zugebracht hat, ist gewonnene Zeit".
Wieder die leider für Spitzer so typische Verkürzung – aber auch hier gilt: Mit etwas Tiefgang und einer differenzierten Betrachtungsweise wird klar: "Kompetenz wächst nicht dadurch, dass man der Technologie aus dem Weg geht, sondern dass man sich mit ihr auseinander setzt." (Prof. Jantke)
Wer versucht, seine Kinder vor allen schwierigen Einflüssen fernzuhalten, wird lebensuntüchtige Kinder erziehen. Das Leben eines Kindes ist kein goldener Käfig, der als lebenslanger Schutzbunker dienen könnte.
Wir fordern daher mehr Medienkompetenzförderung und nicht Medienabstinenz. Medienkompetente Kinder verstehen die Wirkungsweisen von Medien besser, können sie einordnen und einschätzen, ob sie ihnen gut tun. Medienpädagogik unterstützt Jugendliche daher, damit sie Einordnen, in Beziehung setzten und Verarbeiten-lernen.
LMZ-Stellungnahme zu Manfred Spitzers "Digitale Demenz" (PDF-Version), Seite 8 (CC BY-SA 2.0 DE)
Medienpädagogik als einziger Ausweg?
Dass die Fronten derart verhärtet sind, hat folgenden Grund:
Manfred Spitzer ist davon überzeugt, dass der Umgang mit Medien zwangsläufig dumm macht. Damit meint er nicht nur die üblichen Beschäftigungen, denen Jugendliche nachgehen (spielen, chatten, Videos glotzen, in Kontakt sein), sondern die meisten Tätigkeiten, die mit digitalen Medien vollzogen werden. Die kognitive Verarbeitung von Inhalten funktioniere nur noch auf einem oberflächlichen, nicht nachhaltigen Niveau, wenn Medien im Spiel seien. Erklärt am Beispiel Google:
Wenn Sie Google benutzen, bleiben die Informationen nicht so gut hängen, wie wenn sie aus anderer Quelle kämen. Sie wissen ja schließlich immer: Sie können das googeln. Deswegen ist der innere Antrieb kleiner, sich etwas zu merken. [...] Anders gesagt: Googeln vermindert das Lernen. Außerdem braucht man Vorwissen, das wie ein Filter wirkt, um Suchmaschinen überhaupt richtig benutzen zu können. Deshalb ist es so wichtig, dass in der Schule gelernt und nicht gegoogelt wird.
ftd 23.08.2012: Interview mit dem Psychiater Manfred Spitzer: "Wir googlen uns blöd"
Aus Spitzers Sichtweise gibt es keine Alternative: Digitale Medien sind unter allen Umständen schlecht, unabhängig von weiteren (z.B. medienpädagogischen) Einflüssen.
In der Medienpädagogik dagegen glaubt man daran, dass die möglichen negativen Effekte des Medienkonsums vermindert oder gar verhindert werden können, wenn der Umgang mit Medien von der Pike auf gelernt wird.
Diese beiden Positionen sind unvereinbar. Für beide gibt es zahlreiche Belege in Form von wissenschaftlichen Studien (aber wir wissen ja alle, wie unseriös Zahlen sind, wenn Aussagen über Menschen getroffen werden). Was bleibt, ist die Glaubensfrage.
Was auch immer Sie glauben: Es spielt keine Rolle. Denn das Rad lässt sich nicht zurückdrehen (wie Manfred Spitzer es gerne hätte). Digitale Medien sind um uns, überall, immer. Vielleicht sogar auch schon in uns. Und vielleicht machen sie uns doch blöd und dement. Manfred Spitzer glaubt das, und er ist kein Dummschwätzer oder Demagoge, sondern eine der zentralen Figuren der Gehirnforschung. Das sieht auch das LMZ ein:
Anzulasten ist Manfred Spitzer von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III, Universitätsklinikum Ulm, nicht, dass er Probleme benennt. Anzulasten ist Spitzer vielmehr, dass er keine zukunftsorientierte Lösungen bietet, dass er all jenen, die sich mit großem Engagement, mit viel Ernsthaftigkeit um eine sinnvolle und verantwortliche Nutzung der digitalen Medien bemühen in die Parade fährt [...]
LMZ-Stellungnahme zu Manfred Spitzers "Digitale Demenz" (PDF-Version), Seite 2 (CC BY-SA 2.0 DE)
Die Wahrheit
Manfred Spitzers Lösung (zeitliche/inhaltiche Einschränkung des Medienkonsums) ist nicht realisierbar. Digitale Medien sind in unserem Alltag.
Deshalb - das sagt die Medienpädagogik - muss man Kindern und Jugendlichen beibringen, sinnvoll mit Medien umzugehen. Es gibt keine Alternative. Ob nun die von der Medienpädagogik postulierten positiven Effekte, die der Umgang mit digitalen Medien hat oder haben kann, eine aus der Not entstandene Tugend sind oder echter innerer Überzeugung entspringen, spielt dabei keine Rolle.
Der einzig gangbare Weg ist die Flucht nach vorne. Lehren wir die Jugend, gute Mediennutzer/innen zu sein. Und wenn sie ab und zu mal zum Fußballspielen rausgehen oder ein Buch lesen, ist das sicher überhaupt nicht verkehrt.