Kein Lerneffekt
Powerpoint-Präsentationen: Da rein, da raus 06.09.2011, 12:11
Die meisten Zuhörer/innen behalten von den Inhalten einer Powerpoint-Präsentation nur einen Bruchteil. Eine empirische Studie von Prof. Wolfgang Nieke belegt das nun, der Professor warnt: "Vorsicht also mit Power Point". Dabei ist Powerpoint selbst nicht das Problem, sondern vielmehr der schlechte Präsentationsstil, der die westlichen Gesellschaften wie eine Seuche befallen hat.
Studie: Kein Lerneffekt mit Powerpoint-Präsentationen
Im Gegensatz zu Folien-Vorträgen mit Overheadprojektor und freien Vorträgen haben Präsentationen mit klassischen Powerpoint-Folien die schlechteste Wirkung auf den Lerneffekt. "Professor warnt vor Power-Point-Präsentation" lautet die zugehörige Pressemeldung der Universität Rostock. Ihr zufolge bleibt bei den Zuhörern bei Powerpoint-Präsentationen am wenigsten von allen untersuchten Präsentationsformen im Gedächtnis hängen. Das sind die Ergebnisse einer Studie von Prof. Dr. Wolfgang Nieke.
Am besten – und da ist die Überraschung perfekt – schnitt die gute alte Präsentation mit Folie und Overhead-Projektor ab. Das hat die beste Wirkung auf den Lerneffekt. Auf Platz 2 kommt der Vortrag. [...]
Das Ergebnis der Studie, die Rostocker Studenten, sowohl Anhänger als auch Skeptiker von Power Point, über mehrere Jahre durchführten, ist auch für Prof. Nieke überraschend. Um sicher zu sein, hat er die Studie zweimal durchführen lassen. Das Ergebnis blieb dasselbe. Die Erkenntnisse sollen nun mit einer noch größeren Studie untermauert werden, bevor eine wissenschaftliche Veröffentlichung erfolgen wird. Bislang gibt es kaum Untersuchungen zum Lernerfolg mit Power Point.
„Vorsicht also mit Power Point“, sagt Professor Nieke, Gründungsprofessor für Allgemeine Pädagogik an der Uni Rostock. Er rät nun, insbesondere an Universitäten und Gymnasien zum „sorgsamen Umgang mit Animations-Elementen bei Lehrveranstaltungen“. Vor dem Hintergrund, dass immer mehr an Wissen vermittelt wird, sollte auf überflüssige Elemente verzichtet werden. „Dadurch wird die Aufmerksamkeit vom Inhalt auf die Form umgelenkt“.
Universität Rostock 30.08.2011: Professor warnt vor Power-Point-Präsentation (Hervorhebung Lehrerfreund)
Das Ergebnis ist mitnichten überraschend. Gerade Lehrer/innen wissen, dass eine Diskussion über die Inhalte einer Powerpoint-Präsentation meistens sinnlos ist - niemand hat sich irgendwas gemerkt, wenn ein/e Schüler/in eine 30-minütige Powerpoint-Präsentation gehalten hat.
Begründungen aus der Kognitionspsychologie
Auch nicht überraschend sind die Begründungen von Prof. Nieke. Dass die Aufmerksamkeit durch "Animationselemente" etc. vom Inhalt auf die Form gelenkt werde, ist wahrscheinlich nicht relevant. Denn an einfliegenden Schriften hat sich die Generation Privatfernsehen bereits eine dicke Hornhaut geholt, und die Buchstabe-für-Buchstabe-Animationen sind selbst bei Siebtklässler/innen out. Jede Nachrichtensendung enthält mehr Animationen als eine durchschnittliche Powerpoint-Präsentation.
Die zweite Begründung kommt aus den Forschungen zum Lernen mit Multimedia:
Das Arbeitsgedächtnis [früher: Kurzzeitgedächtnis] wird unnötig belastet, denn es hat laut Rostocker Wissenschaftler, „eine beschränkte Kapazität“ [sic]. Den Lernenden gehen so viele wichtige Informationen verloren.
Universität Rostock 30.08.2011: Professor warnt vor Power-Point-Präsentation
Hier kommen die Theorien der Verarbeitung multimedialer Inhalte (Richard E. Mayer, John Sweller usw.) zur Anwendung. Die Theorie der kognitiven Belastung ("Cognitive Load Theory") wird in den letzten 20 Jahren im akademischen Bereich mit einschläfernder Regelmäßigkeit bemüht, sobald mit einer Kombination aus Text-Bild-Repräsentationsformen gearbeitet wird.
2007 hat Sweller Teile seiner Theorie explizit auf Powerpoint-Präsentationen bezogen. Die synchrone Präsentation von identischen Text- und Bild-Inhalten überlaste das Arbeitsgedächtnis, Powerpoint gehöre "begraben":
Es ist effektiv, über ein Diagramm zu sprechen, denn das Diagramm stellt die Informationen in einer anderen Repräsentationsform dar. Es ist jedoch nicht effektiv die Wörter zu sagen, die schon in geschriebener Form präsentiert werden; dadurch wird das kognitive System überlastet und das Verständnis der präsentierten Inhalte nimmt ab.
The Sydney Morning Herald 04.04.2007: Research points the finger at Powerpoint (Übersetzung Lehrerfreund)
Diese Aussage trifft - wenn überhaupt - nur auf hoch komplexe Inhalte zu, die das gesamte geistige Potenzial der Zuhörer/innen fordern. Powerpoint-Präsentationen des Alltags ("Das Leben Goethes", "Entwicklung unserer Umsatzzahlen", "Der Regenwald") sind in der Regel inhaltlich anspruchslos und damit einfach zu verstehen. Selbst wenn man während der Präsentation die Informationen noch über einen dritten Kanal vermittelt bekäme (z.B. mit Akupunkturnadeln in Blindenschrift auf die Haut), könnte man problemlos folgen und den Transfer ins Langzeitgedächtnis leisten.
Der wahre Grund: Schlechte Präsentations-Angewohnheiten
Die Ursache für die Studienergebnisse von Prof. Nieke ist vielmehr darin zu sehen, dass sich beim Präsentieren mit Powerpoint einige stumpfsinnige Konventionen eingebürgert haben, zum Beispiel:
- Verwendung von Aufzählungslisten (Bullet-Listen)
- Überfrachtung der Folien mit Text
- Folien werden vorgelesen
- Visualisierung wird ersetzt durch Text
Dadurch werden Vorträge zu ultralangweiligen, undynamischen Veranstaltungen, die weder Interesse erzeugen noch die Inhalte eingängig vorstellen. Die Präsentationsperson ist nur noch Statist. Unter diesen Umständen fällt es sogar der an der Sache interessierten Zuhörer/in schwer, inhaltlichen Gewinn aus einer derartigen Powerpoint-Präsentation zu ziehen.
Wer eine Präsentation anfertigt, der beginnt mit Powerpoint: Die gesamte Struktur, Text- und Bilddarbietung, Umfang - alles wird von der Software bestimmt. Haben Sie sich bei Ihrer letzten Powerpoint-Präsentation vorher eine halbe Stunde hingesetzt und ein inhaltliches Konzept angefertigt? ("Ich hatte das Konzept natürlich vorher schon ungefähr im Kopf.") Wie viel Prozent Ihrer Präsentation könnten Sie gut halten, wenn Ihnen jemand unmittelbar vor Beginn Ihres Vortrags den Beamer abdreht?
Wer frei spricht oder Overhead-Folien benutzt, der muss sich zwangsläufig mit den Inhalten seines Vortrags beschäftigen und eine didaktische Aufbereitung vornehmen. Damit wird der Vortrag besser, interessanter - und bei den Zuhörer/innen bleibt mehr hängen. DAS ist die Erklärung. Nicht Powerpoint selbst ist das Problem. Es ist die unterirdische Aufbereitung und Vorstellung der Inhalte, die Motivation und Lerneffekt minimiert. Ob man Powerpoint dafür benutzt oder nicht, ist völlig irrelevant.
Beispiele
In vielen Fällen zeigt schon die Folie allein die Präsentationsphilosophie. Von Prof. Dr. Wolfgang Nieke findet sich auf den Webseiten der Universität Rostock eine einzige Powerpoint-Präsentation im PDF-Format öffentlich zugänglich (der Rest der Lehrmaterialien dürfte auf der Stud.IP- oder ILIAS-Lernplattform der Universität liegen). Aus Mangel an weiteren Beispielen betrachten wir deshalb kurz zwei Folien aus dieser Präsentation "Umwelt - Mitwelt - Schöpfung" (PDF):
Die Folie Nr. 14 enthält 88 Wörter (ohne Fußzeile, ohne Überschrift) in fünf Stichpunkten. Man kann sich schwer vorstellen, dass zu dieser Folie Inhalte vorgetragen werden, die man sich gut merken kann. Wird man den Inhalt "Monistischer Materialismus: Es gibt nur die Materie, und alles ist aus ihren Prinzipien heraus zu erklären" besser behalten können, wenn man ihn als geschriebenen Satz vor sich sieht? Man wird ihn sich dann merken können, wenn man ihn gut und anschaulich erklärt bekommt. Dann genügt vielleicht aber auch das Stichwort "Monistischer Materialismus". Oder der Satz steht auf einer Folie und die Präsentationsperson erklärt ihn ausführlich. In diesem Falle würde man aber wirklich nur diesen einen Satz auf die Folie schreiben.
Folie 11 dagegen enthält 8 Wörter (ohne Fußzeile, ohne Überschrift). Der Vortragende wird "Das Viereck der Sustainability" in eigenen Worten erklären, die Zusammenhänge und Strukturen erläutern. Die Zuhörer/innen müssen sich auf ihn konzentrieren. Wenn er das Thema gut erklärt, wird man verstehen und lernen. Wenn er es schlecht macht, wird das auf ihn selbst zurückfallen ("Er hat es schlecht erklärt").
Powerpoint oder nicht - Die Art des Vortragens macht's
An den eben gezeigten Beispielen erkennt man, dass das Problem nicht "Powerpoint" ist. Es geht darum, wie und zu welchen Zwecken man Medien einsetzt. "Vorsicht mit Powerpoint" ist deshalb eine Aussage, die die Diskussion genau so wenig voranbringt wie die Behauptung, Flipcharts seien besser als Powerpoint.
Solche plakativen Forschungsergebnisse verbreiten sich in rasender Eile im Internet - gerne mit wechselnden Titeln ("Forscher: Overhead-Folien oft besser als Power Point", "Studie: Power Point-Präsentationen wenig sinnvoll" oder "Forscher warnen vor Powerpoint-Präsentationen"). Man kann es nicht oft genug wiederholen: Das Problem ist nicht Powerpoint. Das Problem ist die Art und Weise, wie die Menschen Powerpoint benutzen.