Neue Spicktechnologien, Teil I
Spicken wie der Terminator: Vom Spickzettel zur Bildschirm-Kontaktlinse 01.02.2011, 02:01
Spickzettel, bedrucktes Flaschenetikett, Smartphone - mit der Entwicklung digitaler Hilfsgeräte werden auch die Techniken des Spickens in der Schule immer raffinierter. Noch wehren sich die Verantwortlichen des Schulapparats verzweifelt, doch in wenigen Jahren werden die Täuscher/innen das Wettrüsten gewonnen haben: mit der Bildschirm-Kontaktlinse. Spätestens dann werden sich anwendungsbezogene Formen der Leistungsmessung und Leistungsbewertung durchsetzen müssen.
Unter “Spicken” versteht man die Verwendung nicht zugelassener Informationsmedien während einer Klassenarbeit (Klausur, Vokabeltest usw.)..
Das Abschreiben von der Nebensitzer/in kann recht leicht erschwert werden (z.B. Wie man eine Klassenarbeit/Klausur richtig durchführt - 5 Tipps, Punkte 2, 3 und 5). Schwieriger verhält es sich mit Drittmittel-Täuschungsversuchen. Hierzu zählen sämtliche Hilfsmittel wie Spickzettel oder Aufschriebe auf Tisch, Arm oder Smartphone - und natürlich die Kommunikation mit externen Personen mittels digitaler Technologien.
Die Urmutter: Spickzettel/“Spicker”
Es ist schon schwierig genug, die illegale Verwendung analoger Täuschungsmedien (vulgo: Spickzettel) zu unterbinden oder aufzudecken. Dazu untersucht man den Arbeitsplatz (nach Aufschrieben auf dem Tisch, unter dem Tisch angebrachte, beschriftete Bierdeckelpappen usw.), untersagt den Schüler/innen die Verwendung nicht notwendiger Utensilien, die Spickmaterialien beherbergen könnten (Jacken, Federmäppchen, Blöcke) und verbietet den Gang zur Toilette während der Klausur (weil sich auch dort illegale Aufzeichnungen befinden könnten). Durch solche Maßnahmen lässt sich die Wahrscheinlichkeit, dass gespickt wird, nur minimieren. Zu viele Täuschungsmöglichkeiten haben die Schüler/innen: Aufschriebe auf dem Lineal, Spickzettel im BH, beschriftete Papiertaschentücher usw.
Digitaler Aufschwung: Tricks mit Scanner und Drucker
Eine neue Ära des Spickzettels hat mit der Verbreitung von Scannern und Farbdruckern begonnen: So stellt es heute keine Schwierigkeit mehr dar, ein Flaschenetikett oder die Verpackung einer Tafel Schokolade so zu manipulieren, dass sie den Gegenwert von vier bis sechs Schulstunden enthält.
Mehr zu Methoden guten Spickens: Spicken - Analyse der Szene im WWW.
Der Durchbruch: Smartphones
Durch den massenhaften Besitz von Mobiltelefonen (Handys, neuerdings “Smartphones”) in der Schülerschaft hat sich die Situation verschärft, da mit diesen Geräten sämtliche illegalen Techniken realisiert werden können, als da wären:
- Informationen in großer Menge und in jeglicher Form speichern und nach Bedarf abrufen (Texte, Bilder, Audiodateien ...);
- Informationen aus dem Internet abrufen;
- Kommunikation mit externen Personen.
Die elektronischen Helferlein haben einen gravierenden Nachteil: Sie im Prüfungsraum heimlich zu verwenden ist nicht ganz risikolos. Ihr wahres Potenzial entfalten sie erst dann, wenn sie bei einer unaufmerksamen Aufsichtsperson oder in der Einsamkeit (= Toilette) ausgiebig eingesetzt werden können. Seit wenigen Jahren müssen Schüler/innen bei wichtigeren Prüfungen ihre Smartphones vor Beginn der Prüfung abgeben. Gerade die Möglichkeit, mit externen Personen zu kommunizieren, lässt jede/n Prüfer/in erschauern. Von der Verwendung von Handy-Störsendern in der Schule oder bei Prüfungen hat man bisher dennoch abgesehen.
Zunehmend verbreitet ist die Verwendung von Smartphones, MP3-Playern etc. als Audiogerät: Knopf im Ohr, lange Haare oder Mütze drüber und auf Klick erhält man heiße Tipps, die man in der Pause zuvor kurz eingelesen hat. Das Abspielgerät ruht sicher in der Jackentasche und wird mit dezenten Fingerbewegungen bedient.
Die Zukunft: Die Bildschirm-Kontaktlinse
Jan-Martin Klinge verweist auf eine neue Technologie, mit der in absehbarer Zeit Kontaktlinsen als Bildschirme fungieren können - contact lense displays - mit fatalen Folgen für die Freunde valider Leistungsbeurteilung:
Schon heute ist im Grunde jeder Schüler in der Lage, so zu pfuschen, dass es kein Lehrer je mitbekäme. Wie viele Pfuschzettel und Handys liegen wohl tagtäglich auf der Schülertoilette versteckt? In China verkauften einige Lehrer sogar elektronische Funkempfänger, die sich Studenten ins Ohr setzen und so von der anderen Straßenseite die Lösung zugeraunt bekamen. Mit wachsenden technischen Möglichkeiten und zunehmender Miniturisierung werden diese Möglichkeiten des Pfuschens meines Erachtens massiv anwachsen.
... ein Halbtagsblog 31.01.2011: Kontaktlinsen als Bildschirm
Und tatsächlich - eine solche Kontaktlinse wäre quasi unentdeckbar und damit die Superform des Spickzettels: Man könnte in der Tat ein eingescanntes Schulheft seitenweise durchblättern, ohne dass die Aufsichtsperson auch nur den geringsten Verdacht schöpfen würde. Man müsste lediglich eine “falsche Iris” tragen, die nach Aussage der Entwickler jedoch erst mal noch ganz weit unten auf der Prioritätsliste steht.
(Erzwungene) Lösung: Andere Formen der Leistungsmessung
Seit Wikipedia wird heftig darüber diskutiert, welchen Stellenwert “Wissen” in modernen Bildungskonzepten haben soll. Alle können alles immer und überall nachlesen - welches Wissen ist tatsächlich sinnvoll? In vielen Fächern ist “Wissen” wichtig, um Verständnis oder Anwendungskompetenzen erlangen zu können. Dabei ist “Wissen” immer(!) nur Vehikel für andere Kompetenzen oder Einsichten. Das wird von vielen Lehrpersonen häufig übersehen.
Spätestens seit der Bildschirmkontaktlinse haben Leistungsurteile, die sich am Wissensstand der Schüler/innen orientieren, ausgedient. Im Unterricht müssen die Schüler/innen lernen, wie sie Wissen anwenden können. Klausuren sind im Optimalfall so abgefasst, dass die Schüler/innen beliebige Materialien benutzen dürfen (Formelsammlungen, Geschichtsbücher, Wörterbücher, digitale Zeitungsarchive ...) und trotzdem gefordert sind. Das gilt für sämtliche Klassenstufen und Schulformen. Wem das befremdlich scheint: Spätestens seit dem Kontaktlinsenbildschirm gibt es keine Alternative mehr.
Nachruf auf den “Spickzettel”
Das Konzept “Spickzettel” verliert durch den Einsatz elektronischer Hilfsmittel eine wesentliche Funktion: Wer stundenlang einen Spickzettel auf Papier anfertigt, sich überlegt, welche Informationen er/sie aufnimmt, die wichtigsten Begriffe bis zur Unkenntlichkeit abkürzt - der lernt bei diesem Vorgehen oftmals mehr als bei der klassischen Klausurvorbereitung. Wer einfach die gesamte Wikipedia auf sein Smartphone kopiert, der hat wirklich gar nichts gelernt - weder vorher noch nachher. Denn während der Klausur verschwendet er seine Zeit damit das zu tun, was er/sie eigentlich im Unterricht tun und lernen hätte sollen: Vorhandenes Wissen sinnvoll nutzen.