Studie: Wie Studierende mit Quellen umgehen
Zitieren ohne zu kapieren 23.11.2011, 08:32
Eine Studie aus den USA zeigt, dass 70% studentischer Zitate in schriftlichen Hausarbeiten aus den ersten zwei Seiten einer Quelle stammen, unabhängig von deren Umfang. Der Trend zur oberflächlichen Quellenlektüre ist global und unaufhaltsam.
Das US-amerikanische The Citation Project hat es sich zur Aufgabe gemacht, schriftliche Arbeiten von Studierenden zu analysieren, um Aufschluss über den Umgang mit der verwendeten Literatur zu bekommen. Zwei zentrale Ziele stehen hinter allem: "Preventing plagiarism, teaching writing" (etwa: Plagiate vermeiden, Schreiben lehren).
Im August 2011 veröffentlichte das Citation Project eine Studie, in der 174 studentische Arbeiten aus 16 verschiedenen US-amerikanischen Hochschulen untersucht wurden. Der Kurzreport (PDF) enthält neben diversen statistischen Informationen (wie oft wurden welche Medien-/Quellentypen zitiert, Seitenumfang der zitierten Literatur etc.) einen wirklichen Hammer (gefunden bei HEAD.Z|Blog): 70% aller Zitate entstammen den ersten zwei (!) Seiten eines Werkes, unabhängig von dessen Umfang. Im Report wird das so ausgedrückt:
Unabhängig vom Umfang der zitierten Quellen sind 46% aller Zitate der ersten Seite entnommen; von der zweiten Seite sind 23% aller Zitate entnommen. 77% aller untersuchten Zitate finden sich auf den ersten drei Seiten der Quelle, unabhängig davon, ob die Quelle insgesamt drei oder 400 Seiten umfasst. Verwenden die Studierenden umfangreichere Quellen, wird ebenfalls sehr häufig aus den ersten Seiten zitiert; nur 9% der Zitate stammen von Seite 8 oder höher.
The Citation Project - Kurzreport 08/2011 (PDF) (Übersetzung Lehrerfreund; absolute Zahl der Fundstellen ausgelassen)
Die gesamte Datenlage:
Herkunft der Zitate (Seitennummer i.d. Quelle) | Häufigkeit | Prozent | Prozent, kumuliert |
---|---|---|---|
Seite 1 | 885 | 46.3 | 46.3 |
Seite 2 | 443 | 23.2 | 69.5 |
Seite 3 | 151 | 7.9 | 77.4 |
Seite 4 | 100 | 5.2 | 82.6 |
Seite 5 | 73 | 3.8 | 86.5 |
Seite 6 | 48 | 2.5 | 89.0 |
Seite 7 | 31 | 1.6 | 90.6 |
Seite 8+ | 180 | 9.4 | 100.0 |
Gesamt | 1911 | 100.0 |
Bei weiterer Betrachtung dieser Daten kommen die Verfasserinnen der Studie zu dem Schluss, dass es keinen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der sprachlichen Komplexität einer Quelle und dem Umgang damit gibt. Also beschränkt sich das Zitieren auch dann auf die ersten Seiten, wenn die Quelle einfach zu lesen und zu verstehen ist.
Die Verfasserinnen der Studie kommentieren ihr Ergebnis trocken mit den Worten: "This suggests that students are not engaging with texts in meaningful ways." Bissig übersetzt: Die überwiegende Mehrzahl der Studierenden schreibt ab, ohne die Texte überhaupt zu lesen und/oder zu kapieren.
Diese wohl erstmals empirisch fundierte Erkenntnis betrifft nicht nur schriftliche Arbeiten, sondern wahrscheinlich sämtliche Prozesse, in denen in akademischen Kontexten Texte erzeugt werden: Präsentationen, mündliche Vorträge, Handouts, schriftliche Arbeiten, ja, sogar Spickzettel sind vollgestopft mit redundantem Wissen, das auf Nachfrage nicht erklärt werden kann. Das betrifft Schüler/innen und Student/innen gleichermaßen.
Ein zentraler Grund für solche Entwicklungen ist darin zu sehen, dass sich die Menge der verfügbaren Informationen seit Beginn der digitalen Revolution explosionsartig vermehrt hat und weiter vermehrt. Während ein/e Studierende in den Neunzigern für eine Hausarbeit in stundenlanger Recherchearbeit mühsam einige Zeitschriftenartikel zusammenkopierte und einen Rucksack voller Bücher auslieh, stehen Schüler/innen und Studierende heute vor einem Megasammelsurium: Neben dem Internet, das zu jedem Thema zahlreiche Quellen unterschiedlichster Qualität bereithält, lässt sich in einschlägigen akademischen Plattformen und kommerziellen Verlagsportalen auf Knopfdruck zu jedem noch so speziellen Thema eine Masse von Aufsätzen und Artikeln finden, meist komfortabel im PDF-Format. Wer kann mit dieser Informationsflut sinnvoll umgehen? Wer weiß überhaupt, was ein sinnvolles Vorgehen in diesem Dschungel ist?
Also lamentieren wir nicht über den Verfall propädeutischer Kompetenzen, sondern kehren wir vor unserer eigenen Tür und zeigen unseren Schüler/innen und Student/innen, wie sie korrekt mit Quellen arbeiten. Wenn wir es überhaupt selbst noch können.