Lehrerfreund-Hellseherin
Deutsch-Abitur Baden-Württemberg: Kommentar zu den Aufgaben 2015, ein Prognöschen für 2016 20.03.2016, 19:19
Brandaktuell zum Deutsch-Abitur in Baden-Württemberg: eine knackige Analyse der Abiaufgaben von 2015 und eine Kurzprognose: Welche Themen können wir beim Deutsch-Abi 2016 erwarten? Wie immer von Db (JKG Bruchsal).
Vorhang auf: Hatte 2015 mit Agnes endlich eine Frau ihren Auftritt, nachdem Walter Faber und Georg Danton schon mehrfach auf der Abitur-Bühne standen? (Spoiler: Nein.) Aus dem Ensemble verabschiedet sich die Liebeslyrik; für die nächsten Spielzeiten sitzen „Natur und Mensch“ schon in der Garderobe.
Eine Prognose ist seit Einführung der neuen Aufgabentypen in der bisherigen Form obsolet. Aber ein Abitur-Kommentar beim Lehrerfreund ohne wenigstens ein kleines Prognöschen, das geht einfach nicht … (direkt zur Prognose nach unten springen)
Deutsch-Abitur Baden-Württemberg 2015: Kommentar zu den Aufgaben
Die Angleichung der Anforderungen im allgemein bildenden und beruflichen Gymnasium war das Ziel der Aufgabentypenänderung ab 2014, dennoch sind nur die Aufgaben I, II und III in beiden Schulformen identisch. Auf Unterschiede bei den Aufgaben IV und V wird in der folgenden Detailbesprechung kurz eingegangen.
Aufgabe I: Interpretation von „Homo Faber“ sowie Vergleich von Faber, Danton und Ich-Erzähler in „Agnes“
Nicht Agnes, sondern Walter Faber stand im Mittelpunkt der ersten Teilaufgabe - ein Ausschnitt aus dem Kuba-Kapitel. Die von starken Bildern (Frau im Sand) und wechselnden Emotionen geprägte, monologisierende Passage kann als Wendepunkt in seinem Weltbild gedeutet werden. Keine einfache Aufgabe, die Textstelle wurde aber sicherlich wegen dieser Sonderstellung schon im Unterricht thematisiert.
In der zweiten Teilaufgabe waren, wie wohl inzwischen üblich, alle drei Werke zu vergleichen, der Aspekt jedoch gut machbar: Inwiefern scheitern die Protagonisten?
Dass dies für manche doch nicht so einfach zu erörtern war, zeigen diese Stilblüten:
„Faber scheitert somit in allen drei Beziehungen, wobei er eine Frau sogar unter die Erde brachte.“
„Erst als er nicht mehr arbeiten kann, kommt er ins Krankenhaus und lässt sich operieren. (...) Somit scheitert er auch älter als 50 Jahre zu werden.“
Aufgabe II: Gedicht-Vergleich, Leitthema Liebeslyrik
Nur knapp daneben lag meine Vorhersage:
Zum letzten Mal „Liebeslyrik vom Barock bis zur Gegenwart“, bleiben also ‚nur‘ noch die Epochen Sturm und Drang, Klassik, Romantik und und... (ich tippe auf #IrgendwasmitGoethe und Romantik).
Kein Goethe, dafür wie schon 2013 der moderne Klassiker Bertolt Brecht: Sein Gedicht „Als ich nachher von dir ging“ war zu vergleichen mit dem romantisch angehauchten „Früh im Wagen“ von Eduard Mörike.
Beides ansprechende und dankbar zu interpretierende Gedichte - und beide hätten auch schon gut zum nächsten Leitthema „Natur und Mensch in der deutschsprachigen Lyrik vom Sturm und Drang bis zur Gegenwart“ gepasst.
Aufgabe III: Kurzprosa-Interpretation
Nach der nicht einfach zu interpretierenden Kafka-Parabel im Abitur 2014 gab es nun einen ebenfalls parabolisch angelegten Text: In Alfred Polgars „Auf dem Balkon“ aus dem Jahre 1936 beobachtet eine „Gesellschaft von geistig anspruchsvollen Leuten“ aus der Ferne einen „Eisenbahnzusammenstoß“, zeigt jedoch keinerlei Empathie für die Opfer. Zur Interpretation brauchte man vor allem ein Gespür für den ironischen Unterton und für die metaphorische Bedeutung der fein gezeichneten Schilderung; eine Deutung im historischen Kontext der Vorkriegszeit liegt nahe, war aber nicht explizit zu erwarten.
Aufgabe IV: Essay
Nachdem 2014 an beruflichen Gymnasien „Macht Musik“ die schön mehrdeutige Überschrift war, sollten AbiturientInnen an allgemein bildenden Gymnasien nun ein anderes Hobby bearbeiten: „Die Macht des Sports“, platter, aber konkreter fassbar als ihr letztjähriges Thema „Sehnsucht - Über die Bedeutung eines Gefühls“.
Dagegen war an beruflichen Gymnasien das diesjährige Essay-Thema sehr philosophisch und ließ eher an eine Prüfung im Fach Religion oder Ethik denken: „Ewig leben - ewiges Leben“.
Beide Dossiers zeigten, dass dieser Aufgabentyp anspruchsvoller ist, als er oft von SchülerInnen eingeschätzt wird: Nicht nur kreative Schreibfähigkeiten werden geprüft, sondern auch das Hineindenken in aktuelle, gesellschaftlich bedeutsame Themen, seien es Olympia-Diskussion und WM-Skandal oder ethische Grundsatzfragen wie der Preis der Unsterblichkeit.
Aufgabe V: Analyse und Erörterung nicht fiktionaler Texte
Hier gab es ebenfalls unterschiedliche Konkretisierungen:
An allgemein bildenden Gymnasien sollte ein essayistischer Text aus der Süddeutschen Zeitung analysiert und kritisch Stellung genommen werden. Die Autorin will, ausgehend von Marc Aurel (!), einen Lösungsvorschlag für nichts weniger als die „Unübersichtlichkeit einer globalisierten Welt“ und die medial erlernte „geteilte(...) Unaufmerksamkeit“ bieten: „Haltung bewahren“ durch „Aufmerksamkeit auf den Augenblick“.
Auch wenn er durch den Vergleich von „Marc Aurels ‚tabula‘ “ mit einem „Tablet-PC“ (sic!) der Schülerwelt nahe kommt, klingt der Text eher wie eine Gardinenpredigt der Elterngeneration („dem Multitasking ab und zu die kalte Schulter zeig(en)“ = Mach dein Smartphone aus!). Mit seiner elaborierten Sprache war er, wie schon die diesjährigen Essay-Themen, sicher keine Schmalspur-Alternative für Lektüreverweigerer oder Lyrik-stheniker.
An beruflichen Gymnasien ein ähnliches Bild: Der vorgelegte Kommentar aus der ZEIT zum Empörungs-Journalismus der Boulevardpresse mäandert gekonnt von Rupert Murdoch über Albert Einstein und Augustinus zum Buch der Prediger. Die Aufgabenstellung war hier drei- statt zweiteilig und auch innerhalb der drei Teilaufgaben kleinschrittiger formuliert: Nach der Zusammenfassung der Textaussagen sollte die Argumentationsstrategie erläutert, der Einsatz sprachlicher Mittel untersucht und abschließend kritisch Stellung genommen werden.
Deutsch-Abitur Baden-Württemberg: ein Prognöschen für 2016
„Dantons Tod“ war 2014 zu interpretieren, „Homo Faber“ schon 2013 zumindest an beruflichen Gymnasien, also müsste jetzt ein Ausschnitt aus „Agnes“ kommen.
So dachten wohl alle - und dann kam Walter.
Doch ich bleibe hartnäckig, probiere es gleich noch einmal: „Frau Agnes auf die Bühne, Frau Agnes bitte!“
Meine damalige Vermutung zum Vergleichsaspekt „...inwiefern die Protagonisten ihr Leben versäumen“ lag recht nah am tatsächlichen „... inwiefern sie scheitern.“ Aber - war das nicht schon einmal dran? Betrachten wir die Vergleichsaspekte seit dem ersten Auftreten von Kafka, Kohlhaas & Co., ab 2013 abgelöst von Danton, Homo Faber & Agnes:
2008 Scheitern
2009 selbstbestimmtes Handeln
2010 Veränderung durch die Auseinandersetzung mit der Justiz
2011 Helfer-Figuren
2012 verantwortungsbewusstes Handeln
2013 Bedeutung des Gerichts (nur allg. bild. Gym.)
2013 Weltsicht (nur berufl. Gym.)
2014 Paare - Bedeutung der weiblichen für die männliche Figur
2015 Scheitern
... also:
2016 selbstbestimmtes Handeln ?
Warum eigentlich nicht? Vor allem zu Agnes, die sich durch die Geschichte steuern lässt, passt dieser Aspekt sehr gut (z.B. Kapitel 12ff. und 27f.). Aber auch Danton und Walter Faber beugen sich äußeren und inneren Zwängen.
Ein anderer Tipp aus den Lehrerzimmer-Wettbüros ist das Oberthema „Identität und Rolle“, eine denkbare Aufgabenstellung zum Beispiel „... inwiefern Agnes, Walter Faber und Georg Danton sich von Rollen lösen und zu eigener Identität finden können.“
Der letzte Hinweis ist zur Aufgabe II, Gedichtvergleich: 2016 zum ersten Mal geprüft wird das neue Leitthema „Natur und Mensch in der deutschsprachigen Lyrik vom Sturm und Drang bis zur Gegenwart“. Hier ist also alles offen - hoffentlich trotz grüner Mehrheit im Stuttgarter Landtag mehr als nur „Ökologische Texte“
Wie immer alles ohne Gewähr. Welches nachösterliche Ei auch im Nest liegen wird: Toitoitoi und viel Erfolg!