Turbo-Abi
Wie Kultusministerien die G8-Pleite vertuschen 14.02.2010, 16:32
Um Geld zu sparen, wurde die gymnasiale Schulzeit bundesweit um ein Jahr gekürzt ("G8", auch bekannt als "Turbo-Abi"). Das war teuer: Die meisten Schüler/innen sind völlig überfordert. Nun rotieren die Kultusministerien unter dem Druck der Öffentlichkeit und versuchen, die Wogen zu glätten - z.B. durch Vereinfachung der Prüfungsaufgaben zum Abitur.
G8 - Saat des Verderbens
Das Argument der Politik für die Einführung des umstrittenen achtjährigen Gymnasiums (“G8”) war die internationale Konkurrenzfähigkeit - Deutschlands Hochschulabsolvent/innen gehören zu den ältesten weltweit. Insgeheim hoffte man, durch die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit um ein Jahr die Kosten des Bildungswesens zu senken und den Arbeitsmarkt zügiger mit qualifizierten Fachkräften versorgen zu können. Wer das G8 im Vorfeld ablehnte, war als reaktionärer Kleingeist oder linker Penner verschrien.
Von Anfang an verdächtig dabei war die Tatsache, dass sich niemand um eine sinnvolle Neustrukturierung der Bildungspläne kümmerte. Der Kompetenzbegriff hüllt alles in eine rosarote Wolke, und irgendwie wurden die Inhalte der Klassen 5 und 6 und 11 zusammenkomprimiert.
In den letzten Jahren zeigt sich, dass die Einführung des G8 ein einziges Desaster ausgelöst hat. Alle Beteiligten sind hilflos überfordert. Schüler/innen leiden unter den verschärften Bedingungen: keine Zeit für Hobbies, Schulangst, stressbedingte gesundheitliche Probleme. Die Lehrer/innen exekutieren irgendwie den Lehrplan zur Unzufriedenheit Aller. Einziger Nutznießer ist der Nachhilfemarkt, der einen exorbitanten Boom erlebt. Denn Schüler/innen, die sich keine Nachhilfe leisten können, stehen immer häufiger auf der Abschussliste. Das Eliteinternat Schloss Salem wird ab 2010/2011 kurzerhand wieder ein (getarntes) G9 anbieten.
Kurz: Durch das G8 haben sich die Gymnasien in “Paukanstalten” (Wenzel) verwandelt, in denen man die Kinder gewaltsam mit Wissen mästet. Wer sich für seine Kinder Allgemeinbildung oder an individuellen Interessen orientierten Unterricht wünscht, muss an eine Privatschule gehen. Der Staat als Bildungsverwalter hat vollständig versagt - denn die Pädagogik hat in den letzten drei Jahrzehnten tragfähige Konzepte entwickelt, deren Umsetzung im Labyrinth der Bildungsadministration scheitert.
Maßnahmen der Kultusministerien gegen das G8-Fiasko
Außerhalb der Politik gibt es aktuell niemanden mehr, der das G8 gutheißt. Lehrer/innen, Gewerkschaftler/innen, Schüler/innen, Eltern, Bildungsforscher/innen, Bildzeitungsleser/innen fordern eine Abschaffung des G8. Damit wird es nun Zeit für die Politik, die Pleite einzugestehen und zurückzurudern. Doch die meisten Kultusminister/innen fühlen sich nicht dazu berufen, das Bildungssystem nachhaltig und strukturell zu verbessern, sondern versuchen vielmehr, die G8-Katastrophe unter hübschen Maßnahmenmäntelchen zu verstecken. Die Maßnahmen sind allerdings nur teilweise originell:
Maßnahme 1: Nichts tun oder schwätzen
In Hessen ignoriert die unbeliebte Kultusministerin Dorothea Henzler (FDP) die Stimme des Volkes. Zwar waren Korrekturen am G8 angekündigt worden, doch offensichtlich waren diese Versprechen nur Schall und Rauch:
“Weder kam es zu einer Entschlackung der Lehrpläne noch konnte die Ministerin erreichen, dass mit Abschluss der neunten Klasse auf einem Gymnasium die mittlere Reife erworben werden kann. [...]”, kommentiert der bildungspolitische Sprecher der Grünen, Mathias Wagner, einen Brief der Ministerin an den Landeselternbeirat.
fuldainfo.de 06.02.2010: G8-Reform: Kultusministerium hat mit umfangreichen Maßnahmepaket reagiert
Die Kultusministerin hofft darauf, durch die endgültige Ersetzung der Lehrpläne durch Bildungsstandards ein erfolgreiches Ablenkmanöver zu starten. In Baden-Württemberg jedenfalls hat sich die Qualität der Bildung durch Einführung der Bildungsstandards nicht verbessert.
Maßnahme 2: Niveausenkung
A) Entrümpelung der Lehrpläne
Schüler/innen des G8 sind grundsätzlich überfordert. Deshalb misten die Kultusministerien seit 2008 die Lehrpläne aus. Die Frage nach der Notwendigkeit einzelner Inhaltsbereiche hätte zentral vor Einführung des G8 behandelt werden sollen - aber das war in der letzten Wahlperiode, wen juckt’s schon. Nun greift man blindlings in die Lehrpläne und schmeißt dies und jenes raus. Das Niveau sinkt, die Noten steigen, alle sind zufrieden. Eine aktuelle Pressemeldung des Bildungsministeriums Saarland weist verschwommen auf die Neustrukturierung der G8-Stundenverteilung hin:
Vorgesehen sei, die überarbeitete Stundentafel zum kommenden Schuljahr (2010/2011) einzuführen. “Die neue Konzeption der Stundentafel wird zur Entlastung der Schülerinnen und Schüler beitragen. Dies ist jedoch nur ein erster Schritt. Notwendig ist darüber hinaus eine Straffung der Lehrpläne. Hier sind die Vorbereitungen bereits angelaufen”, so Kessler.
saarland.de 14.02.2010: G8-Stundentafel neu strukturiert (Pressemitteilung vom 14.02.2010)
Wichtig ist hier nicht das Wort “Konzeption”, sondern die “Entlastung”. Entsprechend darf die geplante “Straffung der Lehrpläne” interpretiert werden - eine Art Lifting aus kosmetischen Gründen.
B) Spaenle-Variante: leichtere Prüfungen
In Bayern, wo das Bildungsniveau bekanntermaßen immer hoch war, protestieren Schüler/innen lautstark gegen Überlastung durch das G8: “Scheiß-G8, lernen die ganze Nacht!” rufen sie und drücken damit das aus, was bundesweit Gymnasiast/innen plagt. Bildungsminister Ludwig Spaenle (CSU) begegnet dem Problem besonders einfallsreich: Die Noten der jetzigen G8-Elftklässler/innen werden evaluiert - und bei Bedarf senkt man einfach das Niveau der Abituraufgaben:
Wir steuern den Prozess der Einführung der neuen Oberstufe konsequent, bis die Schülerinnen und Schüler ihr Abiturzeugnis 2011 erhalten. An den Punkten, wo Nachsteuerungsbedarf besteht, etwa in der Belastung des einzelnen Schülers durch den Stundenplan oder bei dem Niveau der Leistungsnachweise haben wir entsprechend gehandelt.
Bayerisches Kultusministerium, Pressemitteilung Nr. 19 vom 11.02.2010
Ins Konzept passt auch die neue Ausgleichsregelung: “Auch bei den Noten, die ins Abitur einfließen, können Schüler künftig bis zu zwei Fünfen im Abitur durch gute Noten ausgleichen.” (focus.de).
Verkaufen tut Spaenle sein Konzept als “konsequente Prozesssteuerung”, in Wahrheit handelt es sich dabei aber um nichts weiter als Notenmanipulation. Ein effizienter Trick: Wer im Abi gute Noten bekommt, hat keinen Grund für lautes Geschrei. Damit befürwortet Spaenle die schleichende Verdummung seines bayerischen Volkes.
Spaenle dürfte nicht der einzige sein, der es so treibt. Gerade bei der Auswahl der Abituraufgaben für das G8 werden die Kultusministerien hinter verschlossenen Türen ziemlich genau darauf achten, dass es nicht zu schwer wird. Niemand kann angesichts der prekären Situation einen Einbruch der konstant guten Abiturschnitte riskieren. Damit werden politische Erwägungen das inhaltliche Niveau des Abiturs bestimmen - ein höchst riskanter Kurs, der zu der Fehlinterpretation führen kann, dass die Deutschen immer klüger werden.