Wer ist am lautesten?
Unterrichten mit Mikro und Lautsprecher 12.05.2011, 12:19
»Eine neue Ära der Klassenzimmer-Beschallung« - so preist die Fa. Phonak ihr System »Dynamic SoundField« an. Die Lehrer/in trägt ein Headset (siehe Bild), ihre Stimme wird automatisch verstärkt und dynamisch an den Lautstärkepegel im Klassenzimmer angepasst. Das heißt: Je lauter die Schüler/innen krakeelen, desto lauter erklingt die Stimme der Lehrer/in. Lehrer/innen, die das System benutzt haben, sind hoch zufrieden - SIE MÜSSEN NICHT MEHR SO VIEL RUMSCHREIEN.
Technik
Das Dynamic SoundField-System der Fa. Phonak funktioniert so: Die Lehrer/in spricht in ein in ein Headset integriertes Mikrofon; die Stimme wird über eine sehr hochwertige 12er-Lautsprecherreihe verstärkt, Umgebungsgeräusche, Echos und Rückkopplungen werden automatisch vermieden bzw. minimiert. Der Lautstärkepegel muss nicht manuell angepasst werden; das System misst automatisch den Lautstärkepegel im Raum und passt die Ausgabelautstärke an (wie von anderen System bspw. für interaktive Whiteboards bekannt).
Bild: Phonak (mit freundlicher Genehmigung)
Warum Mikro und Lautsprecher im Klassenzimmer?
Als Motivation für die Entwicklung argumentiert die Herstellerfirma Phonak so: Für einen optimalen Lernerfolg ist es wichtig, dass die Schüler/innen die Lehrer/in verstehen (aha). Doch leider gibt es "Faktoren wie Lärm im Klassenzimmer" oder eine "anspruchsvolle Klassenzimmerakustik", die das Verständnis erschweren - und damit den Lernerfolg untergraben.
Doch nicht nur die Schüler/innen, auch die Lehrer/innen selbst sind beeinträchtigt: Dadurch, dass sie "lauter sprechen mussen, um gehört zu werden", werden sie heiser, bekommen Halsschmerzen bis hin zur Arbeitsunfähigkeit.
Soundfield nun, so das Ende der Argumentationskette, sorgt dafür, dass Lehrer/innen ihre Vorträge und Arbeitsanweisungen in normalem Ton vorbringen können und die Schüler/innen sie trotzdem verstehen können. Das führt zu höherem Lernerfolg und "zu weniger Krankheitstagen von Lehrkräften". Kurz zusammengefasst:
Bewährte Soundfield-Vorteile
- Verbesserung der Hör- und Lernfähigkeiten der Kinder
- Lehrkräfte müssen Anordnungen und Informationen weniger oft wiederholen
- Die Verstärkung der Lehrerstimme unterstützt die Klasseninstruktionen und -führung
- Weniger stimmliche Anstrengung für die Lehrkräfte
Dazu muss man anmerken, dass Phonak v.a. in der Herstellung von Hilfen für Hörgeschädigte aktiv ist (z.B. Hörgeräte). Das Dynamic SoundField-System bietet (auch in Zusammenspiel mit einigen Zusatzoptionen) sinnvolle Unterstützung beim Unterricht mit Hörgeschädigten. Allerdings ist im zitierten Abschnitt tatsächlich die Rede vom Regelunterricht; das Phonak-Marketing versucht, auch in den Markt der Regelschulen einzudringen.
Entsprechend sind auf Phonak-Website im Bereich Benutzer berichten auch Erfahrungsberichte von Nutzer/innen festgehalten. Dort ist bspw. zu lesen:
“Dynamic SoundField funktionierte perfekt. Die Schüler bleiben während des Unterrichts fokussiert. Wenn ich es einmal vergaß wieder einzuschalten, erinnerten sie mich sehr schnell daran.”
Brauchen wir ein Verstärkersystem im Klassenzimmer?
Wie schön das klingt: Lehrer/innen müssen ihre Stimme nicht mehr anstrengen, egal wie laut die Klasse ist. Durch die Technik übertönt man selbst eine Armada von verhaltensgestörten, schreienden Pubertierenden. Dass hier ein hoher Entspannungsfaktor für die Lehrer/in liegt, ist unbestreitbar.
Bild: flickr-User Jonathan Powell, CC BY 2.0
Aus pädagogischer Sicht sieht das allerdings ganz anders aus. Wenn die Schüler/innen laut sind, während die Lehrer/in redet, dann bedeutet das: Die Schüler/innen haben keine Lust zuzuhören. Ein hoher Lärmpegel ist ein Zeichen für missratenen Unterricht (wo immer die Ursache auch liegen mag). Diesen hohen Lärmpegel mit technischen Hilfsmitteln übertönen zu wollen führt nicht zu höherem Unterrichtserfolg, sondern zu einem Wettrüsten: Wird die Lehrer/in aus dem Lautsprecher immer lauter, dann müssen sich eben die Schüler/innen lauter verhalten. Dass der Unterricht dabei schlechter wird, liegt auf der Hand.
Deshalb ist es gut, dass es seitens der Lehrer/in physische (stimmliche) Grenzen gibt. Irgendwann kann die Lehrer/in einfach nicht mehr und muss zu anderen, strukturellen Maßnahmen greifen - z.B. ihr Unterrichtskonzept durchdenken oder neue disziplinarische Systeme realisieren. Wenn diese Grenze durch elektronische Technik umgangen wird, dann wird es im Klassenzimmer einfach nur richtig laut. Dass die Lehrer/in in dieser Situation “Anordnungen und Informationen weniger oft wiederholen” müssen (s.o.), ist zu bezweifeln.
Das Konzept “laut übertönt laut” haben sich viele Lehrer/innen aus Mangel an Alternativen angewöhnt. Dabei geht es durchaus anders - es MUSS anders gehen. Nicht einmal der Sänger von Motörhead hätte auf Dauer eine Chance, 30 Jugendliche zu übertönen. Die Verwendung technischer Hilfsmittel führt nur zur Illusion, alles sei in Ordnung. Letztlich steht die Lehrer/in in einer Ecke, monologisiert in ihr Mikrofon, während die Schüler/innen die dynamisch angepasste hohe Lautstärke überschreien.
Aber hören wir zum Abschluss, was in der Snedwinkela-Realschule Neuenkirchen vor sich geht, wo in der Klasse 6b seit knapp einem Jahr das System installiert ist: Die Schulleiterin ist vom Erfolg des Systems überzeugt und schwärmt vom Erhalt der Lehrergesundheit:
Denn: Bei steigendem Geräuschpegel im Raum passt sich der Lautsprecher automatisch an und wird lauter. [...]
Auch Claudia Jung [Klassenlehrerin] hat etliche positive Effekte beobachtet: „Die Schüler sind schon von sich aus leiser“, berichtet sie.
Ruhr Nachrichten 05.05.2011: Lautsprecher im Klassenzimmer - Lehrer mit starker Stimme
ES SCHEINT ALSO DOCH ZU FUNKTIONIEREN.