Praxis
Warum gibt es eigentlich kein praktisches Jahr für Lehramtsstudierende? 10.04.2014, 21:41
In fast allen Studiengängen für das Lehramt gibt es inzwischen Praxisphasen. Doch die sind häufig zu kurz und nicht intensiv genug. Darüber, wie man dem 'Praxisschock' begegnen kann, denkt David Klett in diesem Beitrag nach.
Ein Gastbeitrag von David Klett.
Schlägt man eine recht aktuelle Publikation der Bertelsmann Stiftung auf (Praxisbezug in der Lehrerbildung - je mehr, desto besser?!), erfährt man, dass es von den Vorgaben der Länder her nirgendwo im Lehramtsstudium ganz praxisfrei zugeht - von Schleswig-Holstein abgesehen. Es gibt allerdings sehr unterschiedliche Formate für Praxisphasen: Je nach Bundesland und Lehramtstyp sind es mal acht, zehn oder vierzehn Wochen oder eine bestimmte Anzahl von Tagen. Auch die Zeitpunkte für den Einstieg in diese Praxisphasen sind innerhalb des Studiums unterschiedlich gesetzt, abhängig von Bundesland, Schulart und der jeweiligen Hochschule.
Gemäß einer Studie der Vodafone Stiftung bemängelt die Hälfte aller befragten Lehrerinnen ihre Vorbereitung auf den Beruf durch Universität und Vorbereitungsdienst. 20 Prozent sprechen gar von einem "Praxisschock" (Lehre(r) in Zeiten der Bildungspanik. Eine Studie zum Prestige des Lehrerberufs und zur Situation an den Schulen in Deutschland, Vodafone Stiftung 2012). Während immer mehr Länder das Referendariat verkürzen oder manche gar für "bedarfsdeckenden Unterricht" die Referendare für sehr überschaubaren Lohn in die Schulen schicken, drängt sich die Frage auf: Warum gibt es eigentlich kein praktisches Jahr für Lehramtsstudierende?
Argumente dafür gäbe es eine Menge. Zunächst einmal kann man sagen, dass sich das in anderen pädagogischen Berufen ziemlich bewährt hat. Wer eine Ausbildung zur Erzieherin macht, hat beim Berufseinstieg selten einen Praxisschock. Ein Vorpraktikum, Praxisphasen und ein Anerkennungsjahr, oft mit Verantwortung für eigene Bezugskinder, dürften jeder Erzieherin klarmachen, was auf sie zukommt. Die Berufseinsteigerin kennt die Kita mindestens so gut wie ihre Fachschule. Wenn man einer Studie des LMU-Professors Ewald Kiel glauben darf (Weiß, S., Lerche, T. & Kiel, E. (2011). Der Lehrerberuf: Attraktiv für die Falschen? Lehrerbildung auf dem Prüfstand, 4 (2), 349-365), ist für 25% aller Lehramtsstudierende der Lehrerberuf eine Art Notlösung. Für diese dürfte sich ein Jahr in der Schule als positive Überraschung erweisen oder als die Erfahrung, dass eine Notlösung für den eigenen Lebensplan auch gar keine Lösung sein kann.
Wer ein ganzes Jahr mit den selben Kollegen und "seinen" Schülern gearbeitet hat, erleben konnte, wie sich über die Zeit eine Beziehung zu einer Klasse entwickelt, mit allen Höhen und Tiefen, wer sich selbst immer wieder im Unterricht ausprobieren durfte, ohne gleich um seine Anstellungschancen zu bangen, wird im Studium und später im Seminar wissen, was mit dem Berufseinstieg auf ihn zukommt. Er weiß, wo er Defizite hat und Hilfe braucht und hat erste Strategien entwickelt, um in unübersichtlichen Situationen wieder Sicherheit zu gewinnen. Vermutlich könnten solche Lehramtsstudierenden nicht nur von ihrem Studium viel mehr profitieren, Sie wüssten auch ziemlich genau, worauf sie sich eventuell bis zum Ende ihres Berufslebens einlassen.
Die eingangs erwähnte Studie weist darauf hin, dass für wirklich nützliche Praxisphasen ihre Dauer allein nicht entscheidend ist. Es komme auf die Verzahnung mit den Studieninhalten, mit der Hochschuldidaktik insgesamt an, damit sich die Erfahrungen in Hörsälen und Klassenzimmern auch gegenseitig befruchten können. Das klingt erst einmal gut. Es klingt aber auch nach Abstimmung, detaillierter Koordination, vielen Experten, die an einem Tisch sitzen und Überzeugungen dahingehend teilen müssen, was für eine gute Berufsvorbereitung wichtig ist. Der Mikrokosmos einer Schule mit seinen eigenen Zwängen und Dynamiken wird sich hier bestimmt nicht ohne Mühe einbinden lassen. Und die aus akademischer Sicht eventuell profan anmutenden aber verdammt drängenden Nöte einer angehenden Lehrerin werden nicht ohne weiteres den Stellenwert im Hochschulbetrieb gewinnen, den sie verdienen. Es kommt also auf das WIE an.
Ein interessantes Beispiel für dieses WIE bietet eine Initiative der Eberhard von Kuenheim Stiftung. In der Lehr:Werkstatt (lehrwerkstatt.org - siehe dort auch weitere Möglichkeiten zur Bewerbung) wurden nun zum zweiten Mal über hundert Lehramtsstudierende für ein Jahr in die Schule geschickt - und das teilweise bereits in ihrem dritten Studiensemester. Der sogenannte Lehr:werker trifft dort seinen Lehr:mentor, also eine Lehrerin oder einen Lehrer, mit denen er gemeinsam unterrichtet und für ein ganzes Schuljahr ein Team bildet. Ein Projektbericht der Stiftung zitiert eine Mentorin: »Meine Lehr:werkerin hat mich vom ersten Unterrichtstag im neuen Schuljahr an (also nicht erst mit dem Beginn der Blockphase!) in allen meinen Mathe-Klassen begleitet (5., 7. und 10. Jahrgangsstufe). Dadurch "gehörte sie" für die Kinder sofort zur Mathestunde dazu.« Anders als in den üblichen Praxisformaten sitzen die Studierenden nicht als Beobachter im Klassenraum, bis sie punktuell auch selbst unterrichten dürfen: Sie stehen von Angang an vor der Klasse - nur eben nicht allein.
Charmant an diesem Modell ist neben der von Anfang an aktiven Beteiligung des Praktikanten im Unterricht und der Begleitung "seiner" Klassen über einen langen Zeitraum, die durchdachte Zusammenstellung der Tandems: Zu Beginn beantworten die Aspiranten auf beiden Seiten einen elektronischen Fragebogen. Eine Software sucht dann möglichst passende Kombinationen. Das scheint gut zu funktionieren, denn bislang habe es, so sagt man in der Stiftung, kaum den Wunsch nach einem Wechsel des Tandempartners gegeben. Unterstützt werden die Teams durch mehrere Workshops, etwa zu Teamteaching, Classroom Management und Schüler-Feedback. Dazu gibt es begleitende Seminare in den kooperierenden Hochschulen.
Natürlich profitiert auch die teilnehmende Schule von den Tandems. Manche Lehr:werker können sich den Erfolg schon ausrechnen, wie eine Einsendung an die Eberhard von Kuenheim Stiftung zeigt: "Ich freue mich sehr, Ihnen mitteilen zu können, dass sich die individuelle Förderung in meinem Tandem […] bewährt hat. Der Klassendurchschnitt hat sich insgesamt von 4,12 auf 3,09 verbessert." 89% der Schulen, die 2011 an dem Projekt teilgenommen haben, waren auch 2012/2013 wieder mit von der Partie.
(Edit 25.04.2014:) Einen Wermutstropfen gibt es an dem Modell: Bei der Lehr:werkstatt handelt es sich zwar nicht um ein praktisches Jahr im klassischen Sinn, dennoch sind die angehenden Lehrer über ein Schuljahr hinweg in der Schule. So gehen sie in der vorlesungsfreien Zeit je 3 Wochen im Block und während des Semesters einen Tag in der Woche in die Schule (insgesamt mindestens 225 Stunden). Die Idee der Initiative zielt in die richtige Richtung: Lehramtsstudierende haben die Möglichkeit, Erfolg und Misserfolg ihrer Bemühungen ein Stück weit selbst zu erleben, indem sie ihre Schüler eine lange Zeit begleiten und das immer mit der Unterstützung eines erfahrenen Kollegen. Sie haben die Chance, Beziehungen aufzubauen, deren Bedeutung für guten Unterricht niemand mehr bezweifelt. Und ihnen wird in dieser intensiven Erfahrung bestimmt nicht entgehen, wenn sie für den Lehrerberuf einfach nicht gemacht sind.
Dieser Text spiegelt die private Meinung des Verfassers wieder und nicht die Ansichten seines Arbeitgebers.