Dämpfer für die Pharmaindustrie
Ritalin-Verschreibung soll »zum Schutz von Kindern« eingeschränkt werden 19.09.2010, 19:23
Immer mehr Kinder mit der (oft: falschen) Diagnose »ADS«/»ADHS« erhalten den äußerst umstrittenen Wirkstoff Methylphenidat (z.B. Ritalin) - man spricht bereits von einer »Modediagnose«. Um diese Entwicklung zu stoppen, hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) beschlossen, dass die Verschreibung solcher Medikamente »aufgrund des Risikopotentials dieser Arzneimitteltherapie« eingeschränkt werden soll. Der Beschluss muss noch von Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler genehmigt werden.
In Deutschland haben rund 600.000 Kinder und Jugendliche die Diagnose “ADS” oder “ADHS” (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ohne/mit Hyperaktivität). Aktuell erhält jedes zweite Kind mit einer ADS-/ADHS-Diagnose Medikamente mit dem Wirkstoff Methylphenidat (z.B. Ritalin, Concerta, Medikinet, Equasym). In einem Bruchteil der Fälle führt die Methylphenidat-Therapie zu fundamentalen Verbesserungen der Lebensumstände der Betroffenen; meistens wird die Verschreibung jedoch von Ärzten vorgenommen, denen die notwendige Fachkenntnis fehlt oder die (auch: unwissentlich) unter dem Einfluss der Pharma-Lobby stehen. Dies ist untragbar, weil die gesundheitlichen Folgen dauerhaften Konsums von Methylphenidat äußerst unklar sind. In den USA sollen eine Million (!) Kinder mit einer unzutreffenden ADS-/ADHS-Diagnose leben und entsprechend mit Medikamenten versorgt werden (mehr: WELT online 18.08.2010: Falsche ADHS-Diagnosen bei Kindern in den USA). Die Zahlen der falschen ADS-/ADHS-Diagnosen in Deutschland sind nicht genau bekannt, dürften jedoch deutlich im sechsstelligen Bereich liegen. Im Jahr 2008 wurde die Hälfte aller ADS-/ADHS-Medikamente von Kinderärzten verordnet.
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat bereits im Januar 2010 “Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Einleitung eines Stellungnahmeverfahrens zur Änderung der Arzneimittel-Richtlinie in Anlage III Nummer 44: Stimulantien” (pdf) veröffentlicht. Dort heißt es:
Vor dem Hintergrund eines europäischen Risikobewertungsverfahrens wurden die Fach- und Gebrauchsinformationen Methylphenidat-haltiger Arzneimittel, die als Stimulantien des zentralen Nervensystems wirken, geändert.
So darf sich die Diagnose von Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS) nicht allein auf das Vorhandensein eines oder mehrerer Symptome stützen, sondern sollte auf einer vollständigen Anamnese und Untersuchung des Patienten basieren und z. B. anhand der DSM-IV Kriterien gestellt werden.
Die Arzneimittel dürfen nur von einem Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und/oder Jugendlichen verordnet und unter dessen Aufsicht angewendet werden. Diese Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und/oder Jugendlichen sind Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin, Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Fachärzte für Psychiatrie und/oder Neurologie, ärztliche Psychotherapeuten mit einer Zusatzqualifikation zur Be- handlung von Kindern und Jugendlichen nach § 5 Abs. 4 der Psychotherapie-Vereinbarungen. Damit die Versorgung auch in ländlichen Regionen gesichert ist, dürfen in Ausnahmefällen auch Hausärzte Folgeverordnungen vornehmen, wenn gewährleistet ist, dass die Aufsicht durch einen Spezialisten für Verhaltensstörungen aus den oben genannten Berufsgruppen erfolgt.
Zur Prüfung des langfristigen Arzneimittelnutzens für den einzelnen Patienten müssen regelmäßig behandlungsfreie Zeitabschnitte eingelegt werden. Es wird empfohlen, die Arzneimittel mindestens einmal im Jahr abzusetzen, um das Befinden des Kindes zu beurteilen.
Diese nüchternen bürokratischen Worte beinhalten hässliche Fakten. Im Klartext:
- Die Verschreibung von Methylphenidat erfolgt in sehr vielen Fällen ohne sinnvolle Diagnose.
- Allgemeinärzte ohne zusätzliche Ausbildung sind nicht in der Lage, eine sinnvolle Entscheidung darüber zu treffen, ob Ritalin & Co verschrieben werden müssen.
- Die gängige Praxis der Dauermedikation ist medizinisch nicht sinnvoll.
Nun hat der G-BA den Beschluss Zum Schutz von Kindern und Jugendlichen – Verordnung von Stimulantien nur in bestimmten Ausnahmefällen der Öffentlichkeit mitgeteilt. Darin heißt es:
Der G-BA setzte damit Änderungen der Fach- und Gebrauchsinformationen von Methylphenidat-haltigen Arzneimitteln als Ergebnis eines europäischen Risikobewertungsverfahrens in der Arzneimittel-Richtlinie um.
Bisher sieht die Arzneimittel-Richtlinie des G-BA vor, dass Stimulantien wie Methylphenidat nicht verordnungsfähig sind und nur ausnahmsweise zur Behandlung bestimmter Erkrankungen, wie bei einem Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität (ADS/ADHS) eingesetzt werden dürfen. Die entsprechende Regelung wurde nun noch enger gefasst, indem weitere Anforderungen an Diagnose und ärztliche Fachkenntnis bei der Behandlung gestellt werden.
“Der G-BA hat seine Richtlinie in diesem Punkt zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, denen Methylphenidat gegen ADS oder ADHS verordnet wird, aufgrund des Risikopotentials dieser Arzneimitteltherapie strenger gefasst. Die Diagnose muss künftig noch umfassender als bisher gestellt werden, und die Verordnung dieser Medikamente darf nur noch von Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen erfolgen. Zudem muss die Therapie regelmäßig unterbrochen werden, um ihre Auswirkungen auf das Befinden des Kindes beurteilen zu können”, sagte Dr. Rainer Hess, unparteiischer Vorsitzender des G-BA.
Der Beschluss wird dem Bundesministerium für Gesundheit zur Prüfung vorgelegt und tritt nach erfolgter Nichtbeanstandung und der Bekanntmachung im Bundesanzeiger in Kraft.
Es ist zu hoffen, dass der doch einigermaßen lobbyresistente Gesundheitsminister Rösler (FDP) sich diesem Beschluss nicht in den Weg stellen wird. Damit würde er Pharmaindustrie und Apotheken traurig machen, denn die verdienen an ADS-/ADHS-Medikamenten wie Ritalin ein Heidengeld. Alleine die Fehldiagnosen in den USA haben bisher zu überflüssigen Kosten von 320 bis 500 Millionen Dollar geführt (WELT.de) - die zum großen Teil in die Kassen der Pharmahersteller geflossen sind.