Abschalten und vergessen
Was haben Ritalin® und Aspirin® gemeinsam? 15.09.2012, 13:30
Wer Kopfschmerzen hat, wirft eine Kopfschmerztablette ein - die Symptome verschwinden, alles ist gut. Bei Aufmerksamkeitsstörungen wie ADS/ADHS ist dieses Konzept jedoch fatal: Die Symptome verschwinden - das Problem aber bleibt.
Vorbemerkung: "Ritalin" und "Aspirin" als Deonyme
"Ritalin" und "Aspirin" stehen im Folgenden deonymisch für "ADHS-Medikament" (bzw.: Wirkstoff Methylphenidat) und "Kopfschmerzmittel" (so wie "Tempo" für "Papiertaschentuch").
Kopfschmerzen abschalten
Das bekannte Kopfschmerzmittel "Spalt" wirbt mit dem knackigen, bekannten Slogan: "Spalt schaltet den Schmerz ab. Schnell."
Genau das ist es, was man von einer Schmerztablette erwartet: Sie soll den Schmerz beenden - schnell, ohne weitere Umstände.
Ist das Symptom, also der (Kopf-)Schmerz, einmal abgestellt, werden Gedanken über Ursachen und mögliche Therapien hinfällig. Der Schmerz ist ja weg.
Aufmerksamkeitsstörungen abschalten
Bevor Eltern ihren Kindern eine medikamentöse Behandlung mit Methylphenidat zumuten, erleben sie in der Regel lang dauerndes Leid: Das Kind hat massive Probleme in der Schule, im sozialen Umfeld und in der Lebensorganisation ("Vergiss deine Jacke nicht."). Den Ausschlag für eine medikamentöse Behandlung geben meist die katastrophalen schulischen Leistungen; trotz ausreichender (oft: überdurchschnittlicher) Intelligenz versagt das Kind bei einfachsten Aufgaben - aus unterschiedlichen Gründen (z.B. Fokusverschiebung, Aufmerksamkeitsprobleme, Verweigerungshaltung, Uneinsichtigkeit gegenüber der Aufgabenstellung).
Sobald die Behandlung mit Ritalin & Co beginnt, erleben die Eltern häufig ein Wunder: Die schulischen Leistungen verbessern sich oft rapide, das Kind findet sich in seinem sozialen Umfeld viel besser zurecht und beginnt sein Leben ordentlich zu organisieren.
Ritalin schaltet die Aufmerksamkeitsstörung ab. Schnell.
Was Ritalin und Aspirin gemeinsam haben
In beiden Fällen tritt oft eine umgehende, massive Besserung des unerwünschten Zustands ein. Das ist sehr erfreulich.
In beiden Fällen versinkt jedoch die Frage nach Ursachen und möglichen Therapien im Nirgendwo. Wozu soll man sich über Kopfschmerzen Gedanken machen, die doch gar nicht mehr da sind?
Gerade bei einem umfänglichen, die Persönlichkeit betreffenden Problem ist dieser Effekt trotz seiner Erfreulichkeit jedoch außerordentlich gefährlich. Man stellt sich nicht mehr die Frage, welche Ursachen die ADS/ADHS hat. Man stellt sich nicht mehr die Frage, welche sinnvollen Therapieformen und Behandlungsmöglichkeiten es geben könnte - denn die Symptome sind einfach weg. Wer würde es den geknechteten Familien auch verdenken.
Die "Störung" ist jedoch noch da. Ritalin hat lediglich die Symptome beseitigt. Sobald die Pille abgesetzt wird, ist meist alles wie vorher, vielleicht schlimmer.