Braunschweiger Studie
Einführung von interaktiven Whiteboards an einer Realschule 12.07.2011, 14:10
Forscherinnen der TU Braunschweig studierten die Einführung von interaktiven Whiteboards an einer Realschule in Braunschweig. Ihre Ergebnisse widersprechen in großen Teilen dem PR-Geschwätz der Whiteboard-Mafia, die in den Massenmedien von "Interaktion", "Zeitersparnis" und "Motivation" tönt.
PD Dr. Gabriele Graube und Susanne Kannenberg (beide TU Braunschweig, Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Weiterbildung und Medien) haben eine Studie über die Einführung von interaktiven Whiteboards an einer Braunschweiger Realschule (485 Schüler/innen, 35 Lehrer/innen) von 2007 bis 2009 durchgeführt. Im Zentraum stand die Frage nach dem Mehrwert der Nutzung interaktiver Whiteboards im Unterrichtsalltag. Im Zeitraum von eineinhalb Jahren wurden Lehrer/innen und Schüler/innen an drei Terminen befragt. Im Beitrag "Revolutionieren digitale Whiteboards den Unterricht?" (Folio 02/2010, S. 36ff (PDF)) sind die wesentlichen Ergebnisse der Studie zusammengefasst. Diese sind auch deshalb lesenswert, weil sie sichin großen Teilen deutlich von dem tendenziösen Geseier der Whiteboard-Lobby unterscheiden.
Wird der Unterricht für die Schüler interessanter?
In der Studie wurden die Schüler befragt, ob das digitale Whiteboard ihr Interesse für den Unterricht wecken würde. Zu Beginn des Projekts gaben 40% an, dass ihr Interesse am Unterricht stark mit dem Whiteboard-Einsatz verknüpft sei. Im Verlauf der Studie sahen das aber nur noch 22% der Jugendlichen so. Diese Entwicklung deutet darauf hin, dass Motivations- und Interessensveränderungen durch die Neuartigkeit des Mediums begründet sind und nur zu kurzfristigen Effekten führen.
Revolutionieren digitale Whiteboards den Unterricht? Folio 02/2010 (PDF), S. 36
Das klingt ganz anders als das, was man sonst immer und überall liest. Eine Google-Suche nach "interaktives whiteboard motivation" ist symptomatisch: "gewaltiger Motivationsschub" hier, "motivieren Schüler mit lebhaften Bildern" dort.
Nimmt die Medienkompetenz der Schüler zu?
Die Studie kann diese Erwartung der Hersteller nicht bestätigen.
Revolutionieren digitale Whiteboards den Unterricht? Folio 02/2010 (PDF), S. 36
Arbeiten die Lehrer gerne mit dem digitalen Whiteboard?
Der Anteil der Lehrer, die völlig zustimmten, gerne mit Whiteboard zu arbeiten, betrug von Anfang an etwa ein Drittel – ein Wert, der sich im Verlauf des Projekts kaum veränderte (Grafik). Viel stärker schwankte die Zahl der Lehrkräfte, die dem digitalen Whiteboard ambivalent gegenüberstehen: Der Anteil, der anfangs überwiegend zustimmte, war mit 56% relativ hoch, er sank im Laufe des ersten Halbjahres aber dramatisch auf 24%, um nach anderthalb Jahren wieder auf 47% zu steigen.
Revolutionieren digitale Whiteboards den Unterricht? Folio 02/2010 (PDF), S. 37
Diese außerordentlich starken Schwankungen sollte man nicht allein auf das Medium beziehen. Stellen Sie sich vor, man fragt Sie, ob Sie gerne mit der Tafel oder mit dem Overheadprojektor arbeiten. Ihre Antwort wird höchstwahrscheinlich zu großen Teilen von anderen Faktoren (behandelter Stoff, Unterrichtssituation, Klassenstufe) abhängen.
Ersetzt das digitale Whiteboard andere Medien?
Die Studie zeigt, dass das Whiteboard im Laufe der Untersuchung immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Anfangs setzten es 40% der Lehrer ein, schliesslich 69%. [...] Parallel dazu sank die Einsatzhäufigkeit anderer Präsentationsmedien: Der Hellraum-Projektor scheint dabei der Verlierer zu sein. Wurde er zu Beginn noch von 40% häufig eingesetzt, so kommt er anderthalb Jahre später nur noch punktuell zum Einsatz. Auch die klassische Tafel verliert an Bedeutung: Zuerst wurde sie noch von 40% der Lehrer eingesetzt; dieser Anteil verringerte sich auf ungefähr 10%. Parallel dazu stieg der Anteil der Lehrer, die die klassische Tafel nie benutzen, von anfänglichen 8% auf 32% an. Man kann an dieser Stelle noch nicht von einem völligen Wegfall der Tafel im Unterricht sprechen, auch wenn die Benutzungsintensität abgenommen hat.
Revolutionieren digitale Whiteboards den Unterricht? Folio 02/2010 (PDF), S. 37f
"Das Ende der Kreidezeit" ist der zentrale Spruch der Whiteboard-Lobby. Er suggeriert, dass man mit Kreidetafeln keinen anständigen Unterricht machen kann - was natürlich nicht richtig ist. Was aber zutrifft: Wer ein interaktives Whiteboard im Klassenzimmer stehen hat, der wäre verrückt, wenn er weiterhin Kreidestaub fressen würde, wo er doch mit weich gleitenden Markern in hübschen Farben auf dem Board schreiben kann. Deshalb verwundert, dass die Kreidetafel überhaupt noch benutzt wurde.
In welchem Verhältnis stehen Aufwand und Nutzen für die Lehrer?
Die Studie zeigt, dass die Lehrer den Aufwand für Vor- und Nachbereitung des whiteboardgestützten Unterrichts kritisch bewerten. So gab knapp die Hälfte der Lehrer an, dass die Möglichkeiten des digitalen Whiteboards den Aufwand für die Vor- und Nachbereitung des Unterrichts rechtfertigten. Der Anteil sank im Befragungszeitraum von 48% auf 42%.
Die Einschätzung zur Aufwändigkeit bei der Nutzung des Whiteboards im Unterricht zeigt ein gegenläufiges Bild: Empfanden anfangs nur 28% der Lehrer den Einsatz im Unterricht als nicht aufwändig, so waren es anderthalb Jahre später bereits 58%. Das zeigt, dass die Lehrer mit fortschreitendem Einsatz mehr Routine in der Bedienung entwickelt haben.
Revolutionieren digitale Whiteboards den Unterricht? Folio 02/2010 (PDF), S. 41
Interaktive Whiteboards werden gerne mit dem Argument angepriesen, dass sie die Arbeitsbelastung reduzieren. Den Gipfel bildet die Studie von SMART, nach der Whiteboards nicht nur die Zeit zur Unterrichtsvorbereitung verkürzen, sondern auch Burnout vorbeugen. Das steht den Aussagen von Graube/Kannenberg diametral entgegen. Wem glauben Sie?
Verleitet das digitale Whiteboard zu mehr Frontalunterricht
So gaben anfangs 72% der Lehrer an, überwiegend frontal zu unterrichten, ein halbes Jahr später stieg dieser Anteil auf 86%. Anderthalb Jahren später gaben nur noch 63% Lehrer an, überwiegend frontal zu unterrichten. Der anfänglich hohe Anteil sowie der folgende Anstieg des Frontalunterrichts können in der Unsicherheit der Lehrerinnen im Umgang mit dem Medium begründet liegen. Gleichzeitig veränderte sich der Anteil von Gruppen- und Partnerarbeit: Diese Formen nahmen ab und wurden von mehr als der Hälfte der Lehrpersonen nur gelegentlich initiiert. Demgegenüber stieg die Häufigkeit der Einzelarbeit: 68% der Lehrer setzten sie häufig ein.
Revolutionieren digitale Whiteboards den Unterricht? Folio 02/2010 (PDF), S. 41
Interaktive Whiteboards sind Tafeln. TAFELN. Also Flächen, auf die man etwas draufschreibt oder wo man etwas anbringt oder etwas verschiebt - ob dazu nun digitale oder analoge Technologien verwendet werden. Die Vorstellung, dass man mit interaktiven Whiteboards etwas anderes als Frontalunterricht machen könnte, ist abstrus. Genau das wird aber weithin von der Whiteboard-Mafia unter dem Stichwort "Interaktivität" in Wort und Bild verkündet. Sogar eigentlich neutrale Institutionen tappen in die Falle, so z.B. das Landesmedienzentrum Baden-Württemberg, wenn es unter dem Stichpunkt "Vorteile interaktiver Whiteboards im Unterricht" verkündet:
* Die Interaktivität ist ein großer Vorteil, da alle am Unterricht Beteiligten durch bloßes Berühren des Bildschirms Probleme lösen, Bilder verschieben und Strategien entwickeln können. Jeder einzelne Schritt kann dokumentiert und zu jeder Zeit wieder reproduziert werden. [...]
* Schüler können mit dem Whiteboard interagieren, um z. B. ein mathematisches Problem zu lösen oder den Satzaufbau in der Fremdsprache handelnd zu üben. [...]
* Dies führt zu einer höheren Attraktivität und Motivation bei den Schülern, da hier einfach mehrere Lernkanäle angesprochen werden können.
LMZ-BW: Interaktives Whiteboard im Unterricht? Entscheidungshilfen
Was einem dann an in der Realität über den Weg läuft, sieht ganz anders aus. Die Klasse pennt, während eine Schüler/in vorne ein Bildchen verschiebt. Wenn wenigstens die Kreide quietschen würde, um den ein oder anderen zu wecken ...
Abschließende Bemerkungen der Autorinnen
Im Rückblick auf die Studie finden die Autorinnen klare Worte:
Wer sich dafür entscheidet, digitale Whiteboards einzuführen, sollte sich der Konsequenzen in ihrer Breite und Reichweite bewusst sein. Eine Einführung kann nur dann erfolgreich sein, wenn den vielfältigen Erfordernissen auf personaler, technischer und organisatorischer Ebene entsprochen wird. Dabei sollte klar sein: Der Unterricht verbessert sich nicht allein mit der Bereitstellung eines Mediums.
Revolutionieren digitale Whiteboards den Unterricht? Folio 02/2010 (PDF), S. 41
Das ist der Punkt. Dabei wird genau gegenteilige Erwartung von den Herstellerfirmen und ihren medialen Schergen geschürt: "Wenn Sie ein interaktives Whiteboard haben, wird Ihr Unterricht besser." Genau dieser Marketing-Humbug führt dazu, dass Tausende von interaktiven Whiteboards angeschafft werden, um die Bildung zu revolutionieren - und kurze Zeit später in maßloser Enttäuschung in der Ecke verrotten. Dabei könnte man mit den Geräten so viele sinnvolle Dinge tun, wenn man sie als das benutzt, was sie sind: ein Frontalmedium.