Die jährliche Glaskugel
Deutsch-Abitur Baden-Württemberg: Kommentar zu den Aufgaben 2011, Prognose für 2012 05.02.2012, 20:37
Eine ausführliche Analyse der Abitur-Aufgaben Deutsch von 2011 und - wie jedes Jahr - die Prognose: Welche Aufgaben könnten beim Zentralabitur 2012 in Baden-Württemberg im Fach Deutsch drankommen?
Es ist fast schon zur Tradition geworden: Die Deutschlehrerin Db (JKG Bruchsal) wagt alljährlich vor dem Abitur den Blick in die Glaskugel und weissagt, welche Aufgaben bzw. Pflichtlektüren im Deutschabitur zu bearbeiten sein werden. Wir danken für den Service (bei einer professionellen Hellseherin zahlen Sie bis zu 200 Euro die Stunde)!
Hier also die Prognose für das Deutschabitur 2012 und eine ausführliche Analyse der letztjährigen Aufgaben.
Nach der missglückten Prognose für das Abitur 2011 gab es mitfühlende Worte von Betroffenen in den Kommentaren:
Hey, da lag ja der Tipp dieses Jahr total daneben. Macht aber nichts.
Kommentar #14 von bodensee am 15.03.2011
Danke... Diesmal wirklich sehr großes Erstaunen - zum dritten Mal hintereinander praktisch die gleiche Werkverteilung in Aufgabe I und II. Der Beginn des Kommentars zum vorletzten Abitur gilt also mit kleinen Variationen auch für das letztjährige Abitur:
Großes Erstaunen allerseits: In den ersten beiden Aufgaben gab es genau die gleiche Konstellation wie im Abitur 2009 nur, dass dieses Mal [, so dass in 2010 und in 2011] in Aufgabe I ein Kafka-Ausschnitt analysiert wurde und Kleist lediglich im Vergleich zum Zuge kam. Wieder war Schiller [das Drama, jetzt „Der Besuch der alten Dame“] gestaltend zu interpretieren (...). Mit dieser Wiederholung [der Wiederholung] hat, glaube ich, wirklich niemand gerechnet.
Deutsch-Abitur Baden-Württemberg: Kommentar zu Aufgaben 2010; Prognose für 2011
Caroline meinte dazu:
Tja, die Prognosen waren für die Katz’. Letztlich darf man sich doch nicht auf Spekulationen verlassen und muss eben doch ALLES lernen.
Kommentar #18 von Caroline am 15.03.2011
Stimmt. Ich hatte nie anderes behauptet ☺ Und dennoch ist ein Befragen der Kristallkugel alle Jahre wieder spannend: Springen Sie direkt nach unten zur Prognose für das Deutsch-Abitur 2012.
Deutsch-Abitur Baden-Württemberg 2011
Im Folgenden werden die baden-württembergischen Abituraufgaben von 2011 genauer unter die Lupe genommen.
Aufgabe I: Vergleich Josef K. - Michael Kohlhaas
Zum zweiten Mal hintereinander stand ein Ausschnitt aus Kafkas „Der Proceß“ zur Wahl. Die Textstelle aus dem Kapitel „Avokat / Fabrikant / Maler“ gibt dabei den echten Beginn des Gesprächs über den Prozess und die Schuldfrage wieder, nachdem sich K. anfangs mit dem Maler nur über Bilder unterhielt.
In der ersten Teilaufgabe sollten K.s Beweggründe für den Besuch beim Maler dargelegt werden. Damit war also kein simples Einordnen in nacherzählte Romanchronologie verlangt, sondern eher übergreifendes, gezieltes Begründen.
Zur erzählerischen und sprachlichen Betrachtung (zweite Teilaufgabe) bot die Textstelle sehr viele Details sowie einige Symbolik (Luft, Bett) und inhaltliche Tiefe. Einige Kommentatoren fanden dies fast zu dicht:
Ich fand die Szene eigentlich ganz gut gewählt. Ok, es war nicht unbedingt eine zentrale Szene im Roman, aber man konnte schon genügend interpretieren… ich musste sogar einiges weglassen, sonst hätte ich zum Vergleich zu wenig Zeit gehabt.
Kommentar #46 von Reallusionist am 16.03.2011
Oder:
ohh ohh (...) auch ich habe thema 1 genommen, tat mir aber wirklich schon bei der hinführung schwer und musste auch total aufpassen, dass ihc mich nicht bei aufgabe 2 total verzettel!! man konnte ja beinahe auf jedes wort bezug nehmen und mit vorigen textstellen vergleichen!!
Kommentar #41 von blub am 15.03.2011
Gegen Ende der Stelle steht die Schuldfrage im Vordergrund. K.s wiederholte Beteuerung „Ich bin vollständig unschuldig“ kontrastiert er kurz darauf mit seiner fatalistischen Erwartung an das Gericht: „Zum Schluss aber zieht es von irgendwoher (...) eine große Schuld hervor.“
Der Vergleich (dritte Teilaufgabe) ging jedoch darauf nicht ein, sondern knüpfte allgemein an die Figur des Malers in seiner Funktion als Helfer für Josef K. an. So sollte die „Bedeutung von Helferfiguren Ihrer Wahl für Josef K. und Michael Kohlhaas“ untersucht werden - ein eher unerwarteter Vergleichsaspekt, der zum ersten Mal die Nebenfiguren in den Fokus rückte.
Der Zusatz „Ihrer Wahl“ war sicher schülerfreundlich gedacht, bereitete aber vermutlich bei der Korrektur Kopfzerbrechen: Wie vergleichbar sind Arbeiten, die nur ein paar wenige Helferfiguren, diese dafür aber tiefgehend darstellen, mit solchen, die viele verschiedene einbeziehen, diese aber zwangsläufig nur oberflächlich untersuchen können? Und auch schon während der ,Wahl‘ überkam vermutlich viele Schüler_innen das unsichere Gefühl, ob sie sich wohl für die ,richtigen‘ Figuren entschieden hatten. Mit fundierter Textkenntnis sollte jedoch jede_r genug Vergleichspunkte gefunden haben.
Es ist schon schrecklich, wenn einem im Nachhinein noch so viele Dinge einfallen, die man noch hätte bringen können :(
Kommentar #52 von Sandy am 18.03.2011
Aufgabe II: Gestaltende Interpretation von „Der Besuch der alten Dame” (nur allgemein bildendes Gymnasium)
Das Drama als neues Sternchenthema kam nicht, wie erwartet, in der ,klassischen‘, sondern in der gestaltenden Interpretation zum Zuge - keine schlechte Wahl, da sich hier ebenfalls einige Leerstellen zur kreativen Füllung anbieten, z.B. ein Innerer Monolog der Hauptfigur etwa während seiner Dachboden-Einsamkeit.
Die zugrunde liegende Textstelle spielt im dritten Akt. Dargestellt werden sollte zunächst die „Situation, in der sich Ill hier befindet“.
Alfred Ill hat bereits seine Läuterung durchlebt und innerlich seine Schuld verarbeitet. In seinem modernisierten Laden macht er seine Familienmitglieder auf ihren gesteigerten Lebensstandard aufmerksam. Sie reagieren abwiegelnd und verlegen, da sie genau wissen, dass ihr Konsum auf Pump hinauslaufen wird auf den Tod des Vaters. Seine Frau stellt Ill gar als „hysterisch“ dar und behauptet „Klärchen geht nicht aufs Ganze“. Innerlich hat sich die Familie also bereits von ihm verabschiedet. So ist es nur folgerichtig, dass Ill im weiteren Verlauf der Handlung die hier von ihm vorgeschlagene Autofahrt als letzte gemeinsame Unternehmung vorzeitig verlässt und in der Herbstsonne im Konradsweilerwald allein sein will. Nur kurze Zeit später trifft Claire dort ein und auch von ihr verabschiedet sich Ill endgültig.
Diese Lücke des Alleinseins „zwischen zwei Abschieden“ sollte gestaltend interpretiert werden mit der Annahme, dass Alfred Ill einen Abschiedsbrief an seine Familie schreibt.
Treffender Kommentar von Dr. Klaus Dautel:
Wer denkt schon (...) an so etwas Abseitiges wie einen seitenlangen Abschiedsbrief, geschrieben auf einer Holzbank, unbequem sitzend, zufällig mit Papier und Bleistift ausgestattet (oder mit Laptop), in aller Eile zwischen zwei Abschieden ... Da ist alles und nichts möglich; wenn's denn sein muss auch eine ausschweifend reflektierende Lebensrückschau - das Abitur ist halt nicht das richtige Leben.
kdautel am 16.02.2011 im ZUM-Unity-Forum Deutsch Abitur '11 Baden-Württemberg
Zum Glück, denn es hatte schon etwas Makabres, dass knapp volljährige Jugendliche, die kurz vor dem Start ins „richtige Leben“ stehen, sich fünfeinhalb Stunden lang in die Gedanken eines Todgeweihten versetzen und dessen letzten Worte an seine Familie aufs Papier bringen sollten.
Aber auch ,klassisches‘ Interpretieren ist nicht „das richtige Leben“, ich behaupte, dass kaum eine_r mit Abiturzeugnis in der Tasche je wieder einen Interpretationsaufsatz schreiben wird. Es geht im Interpretieren um eine durchdachte Auseinandersetzung mit einem literarischen Text - und das Gestaltenden Interpretieren bietet zusätzlich einen anderen, kreativen Ansatz, das eigene Textverständnis darzulegen.
Insofern war diese Aufgabe gar nicht so abwegig, sie ließ genug Freiraum für kreatives Formulieren, bot aber auch viele Möglichkeiten, im Unterricht Erarbeitetes (Ills Entwicklung, Haltung der Güllener) einzubringen.
Aufgabe IV: Liebeslyrik
Thematische Gemeinsamkeit der zu vergleichenden Gedichte war der Umgang des lyrischen Ichs mit dem Ende einer Liebe, symbolische Gemeinsamkeit der Wind als Vermittler zwischen den Entliebten. Ein Gedicht von Else Lasker-Schüler (erschienen 1902) stand einem Gedicht von Hans Magnus Enzensberger (erschienen 1960) gegenüber. An sich eine dankbare Auswahl, thematisch ansprechend und sprachlich-symbolisch vielfältig interpretierbar.
Dennoch sei angemerkt: Das vierte ‚Sternchenthema’ für Aufgabe IV heißt „Deutsche Liebeslyrik vom Barock bis zur Gegenwart“. Und dafür war die Epochenbandbreite der Auswahl bisher sehr gering, sie bewegte sich ausschließlich im 20. Jahrhundert (2009: Hesse, 1921 und Nick, 1996 sowie 2010: Rilke, 1906 und Braun, 1974).
Ich zitiere aus meinem Kommentar zum Abitur 2009:
Leider erwies sich so das im Unterricht erarbeitete Wissen zu Epochen und ihren typischen Merkmalen, Autoren und Jahreszahlen als praktisch nutzlos.
Die Erörterungen: Aufgabe III: Literarische Erörterung und Aufgabe V: Texterörterung
Die literarische Erörterung stellte mit einem Zitat aus dem französischen Klassiker „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ das Literaturverständnis von Marcel Proust zur Diskussion. Eine recht anspruchsvolle und eher philosophische Aufgabe (Literatur als Werkzeug und Hilfe zur Selbsterkenntnis), aber, da offen gestellt („Erörtern Sie, inwieweit Sie (...) zustimmen können“), für Erörterungs-Liebhaber sicher ansprechend.
Das Thema „Flatrate-Mentalität“ der textgebundenen Erörterung klang auf den ersten Blick moderner und schülernäher, die Textgrundlage bildete ein Aufsatz von Richard Kämmerling.
Dieser nahm Flatrate-Saufen zwar als Einstiegsbeispiel, weitete den Blick jedoch aus und betrachtete kritisch den gewandelten Freiheits-Begriff in der (Konsum-)Gesellschaft, dass alles und jeder jederzeit verfügbar sein müsse. Leider ließen sich vermutlich einige von den lebensnahen Beispielen verführen, diese zu erörtern (Pro und Contra Flatrate-Saufen...) statt Kämmerlings übergreifende gesellschaftskritische Sichtweise ausreichend zu prüfen.
Die adressatenbezogene Teilaufgabe verlangte wie im Vorjahr das Erörtern in Form einer Rede im Rahmen eines Diskussionsabends für Jugendliche.
Prognose für die Abitur-Themen 2012 (allgemein bildendes Gymnasium, Deutsch, Baden-Württemberg)
Erneut mache ich darauf aufmerksam, dass sich der Vergleich in Aufgabe I auf „alle drei der genannten Pflichtlektüren“ ausdehnen „kann“ (sic !) (vgl dazu das Schreiben des RP Freiburg vom 08.12.2010: Schriftliche Abiturprüfung im Fach Deutsch 2011 (PDF) ) und betone: „Alle Angaben wie immer ohne Gewähr ☺ - und egal was kommt, in jedem Falle viel Erfolg!“
Da sich die Verteilung von 2010 und 2011 wiederholten, werde ich meine Prognose wiederholen (vgl. Deutsch-Abitur Baden-Württemberg: Kommentar zu Aufgaben 2010; Prognose für 2011):
„Kohlhaas“ ist nach wie vor die ergiebigste Grundlage für Gestaltendes Interpretieren. Vor drei Jahren wurde er ,klassisch‘ interpretiert, in den letzten beiden Jahren ohne Textausschnitt nur in der Vergleichsaufgabe bearbeitet. Er wäre also ,dran‘ in Aufgabe II. Aber auch zu „Der Proceß“ ist eine gestaltende Aufgabenstellung möglich, wenn auch von vielen Kolleg_innen als eher unwahrscheinlich angesehen.
Aus „Der Proceß“ wurde in 2010 und in 2011 in Folge ein Textbeispiel zur Analyse angeboten. Da könnte die neue Pflichtlektüre „Der Besuch der alten Dame“ endlich frischen Wind in die ,klassische‘ Interpretationsaufgabe bringen. Überlegungen zu Vergleichsmomenten zwischen Dürrenmatts Drama und den beiden Prosa-Werken finden sich genug, z.B. hier: HöGyWiki: D8/ werkvergleichsthemen
Wenn der Vergleich wieder von den Hauptfiguren ausgeht, sollte man berücksichtigen, dass es in „Der Besuch der alten Dame“ zwei Hauptfiguren gibt. So könnte man Alfred Ill und Josef K. z.B. unter dem Aspekt „Täter-Opfer“ gegenüberstellen, aber auch Claire Zachanassian ist sowohl Täter als auch Opfer. In einer anderen Konstellation könnte sie z.B. in ihrem Verständnis von Gerechtigkeit Michael Kohlhaas gegenüber gestellt werden.
Zusammenfassung der Prognose für das Deutsch-Abitur 2012:
Aufgabe I: Analyse „Der Besuch der alten Dame“ – Vergleich mit „Der Proceß“ (eventuell auch mit dem dritten Werk „Michael Kohlhaas“)
Aufgabe II: Gestaltende Interpretation von „Michael Kohlhaas“
„Wer immer strebend sich bemüht...“ Vielleicht trifft‘s ja in diesem Jahr ☺, toitoitoi!