Bildung in der Wissensgesellschaft
Modernes Lernen: Sind Kompetenzen wichtiger als Wissen? 13.08.2024, 14:23
Wir leben in der Wissensgesellschaft - Wissen ist immer und überall verfügbar, seit ChatGPT, Gemini & Co sowieso. Deshalb, so eine seit Jahren beliebte Argumentation, müssen wir in der Schule nicht Wissen vermitteln, sondern Kompetenzen zum Umgang damit.
Vorweg: Wissenszentrierte Didaktik hat ausgedient - darüber muss man nichts mehr sagen. Aber doch stellt sich die Frage: Müssen wir gar nichts mehr wissen? Der Comic von TOM bringt's auf den Punkt:
Mit freundlicher Genehmigung vom Zeichner ©TOM - danke!
»Man muss nicht alles wissen. Man muss nur wissen, wo es steht!« - Diese Einstellung ist bei medienaffinen Pädagog/innen äußerst verbreitet. Angefangen hat der Boom mit Google Anfang der 2000er. Durch die breite Zugänglichkeit mobiler Endgeräte (v.a. iPads) gab es eine neue Welle, und seit 2023 gibt es im Kielwasser der Chatbots wie ChatGPT, Claude & Co kein Halten mehr. Die Argumentation hat sich dabei als erstaunlich statisch erwiesen. Auch heute lautet das Credo unverändert: Viel wichtiger sei es, Kompetenzen im Umgang mit dem Wissen zu erwerben und sich effektiv vernetzen zu können, um dieses Wissen gemeinsam zu nutzen.
Das klingt modern, ist aber im Anspruch geradezu verantwortungslos übertrieben. Prof. Dammer (Heidelberg) meint dazu: Unsere Gesellschaft würde ohne Konzentration auf Wissensvermittlung
zu einer geschichtslosen und eindimensionalen Gesellschaftsformation, welche die Dummheit zumindest der Mehrheit ihrer Bürger fördert und in dem Maße, wie sie den Wissensverzicht öffentlich propagiert, auch fördern will.
Und da hat er Recht. Denn Wissen ist eine zentrale Grundlage für sämtliche kognitiven Lernprozesse; Studien zu Lernen und Lernstrategien betonen durchweg die immens wichtige Rolle des Vorwissens. Das gilt auch für Lernprozesse, in denen nicht Wissen, sondern Handlungskompetenzen erworben werden.
Selbstverständlich stehen sich »Wissen« und »Kompetenzen« nicht isoliert gegenüber - viele Kompetenzen bspw. schließen Wissen zwangsläufig ein: Die Kompetenz, höflich zu Männern zu sein, wird nur möglich, wenn man weiß, was das Wort Mann bedeutet.
Trotzdem erfreut sich die Ansicht, dass Kompetenzen viel wichtiger seien als das Wissen selbst, zunehmender Beliebtheit - »Lernziele« ist in der heutigen Pädagogik ein verpönter, fast schon verbotener Begriff. Wir unterrichten »kompetenzorientiert«, sinnfreies Wissen spielt - zum Glück - keine Rolle mehr.
Warum erfreuen sich »Kompetenzen« im Bildungsbereich zunehmender Beliebtheit?
Vor allem bei (halbwegs?) medienkompetenten Pädagog/innen hat sich das Primat der Kompetenz gewaltig durchgesetzt. Möglicherweise bildet der Rückzug auf die »Kompetenz« eine Nische, wo man sich ohne Anstrengung mit ein wenig iPad hier, etwas ChatGPT da und einem Apple TV an der Decke profilieren kann. Die Frage, wie Lernen wirklich funktioniert, rutscht aus dem Blickfeld. »Vernetzung«, »kooperatives Lernen« und »21st-century-skills« sind Begriffe, mit denen eine fundierte Diskussion oft vermieden wird.
Dann noch ein häretischer Gedanke: Ist vielleicht die Vermittlung von Wissen anstrengender als die Vermittlung von Kompetenzen? Wenn dies der Fall wäre, könnte man sagen: Wer auf Kompetenzen setzt, macht es sich leicht.
Letztlich liegt die Weisheit wie immer wohl irgendwo in der Mitte: Ein sinnentleerter Wissensfetisch ist für gute Bildung wohl genau so verkehrt wie eine totale Fokussierung auf wissensfreie Kompetenzen.