Nur eine Diagnose
»Ritalin ist ein Verbrechen« 30.06.2009, 13:50
Georg Feuser, Professor für Behindertenpädagogik, zieht in einem lesenswerten Interview kräftig gegen die Verwendung Ritalin vom Leder. Das Problem seien nicht die Kinder - sondern die hyperaktive Gesellschaft.
Vorbemerkung: ADS/ADHS
Unter dem Störungsbild “ADS” verbergen sich “ADS” (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom) und “ADHS” (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom). ADS ist die Träumer-Variante, ADHS die hyperaktive Variante. Feuser spricht im folgend vorgestellten Interview über die hyperaktive Variante (ADHS).
Hintergrund: Prof. Georg Feuser:
Georg Feuser (* 1941 in Stupferich bei Karlsruhe) ist ein deutscher Erziehungswissenschaftler und war bis 2005 Professor für Behindertenpädagogik an der Universität Bremen. Derzeit ist er als Gastprofessor an der Universität Zürich tätig.
Er gilt als einer der Hauptvertreter inklusiver Pädagogik. Sein hauptsächliches Forschungsgebiet ist die Entwicklung und Konzeption einer „Allgemeinen (integrativen) Pädagogik und entwicklungslogischen Didaktik“, also einer Pädagogik, die den Anspruch hat, alle Menschen gemeinsam zu bilden, anstelle jene Schüler, die als geistigbehindert bezeichnet werden von denen, die als „normal“ gelten zu trennen.
Interview mit Georg Feuser bei weltwoche.ch
In der Schweizerischen Weltwoche gibt Georg Feuser ein ausführliches, sehr lesenswertes Interview zum Thema ADHS, Ritalin und Hyperaktivität. Es ist hier nachzulesen: Weltwoche 26/09: «Ritalin ist ein Verbrechen». Prof. Feuser negiert im vorgestellten Interview die umschriebene Störung ADHS vollständig. Dabei dürfte bei korrekter Definition nicht ADS mitgemeint sein.
Drei relevante Aussagen von Feuser im Überblick:
1. ADS/ADHS ist keine Krankheit
Die Diagnostik von ADS/ADHS ist höchst umstritten: Wer kann und darf ADS/ADHS kompetent diagnostizieren? Ist die Diagnose ADS/ADHS sinnvoll? Feuser verneint das und verweist darauf, dass es sich bei der ADHS-Diagnose ausschließlich um ein Symptombild handelt: Es gibt eine Liste von auffälligen Verhaltensweisen, sobald eine bestimmte Menge erfüllt ist, wird es als ADHS-betroffen diagnostieirt. Das sei keine wirkliche medizinische, hilfreiche Diagnose:
Das ist, wie wenn Sie einen Raster machen und sagen: Wenn hier unten am Seilergraben alle fünf Sekunden ein Auto vorbeifährt, ist es eine hochbefahrene Strasse. Fährt alle zehn Sekunden eines, handelt es sich um eine normal befahrene Strasse. Sie sagen nichts darüber aus, weshalb alle fünf Sekunden ein Auto fährt und was das mit der Stadtentwicklung zu tun hat. Diese Form von Diagnostik ist eine rein merkmalbezogene Diagnose an der äussersten Peripherie.
2. Ritalin in der Schule
Prof. Feuser ist aktuell an der Universität Zürich tätig und bezieht sich im Folgenden auf ein Beispiel aus der Schweiz. Kürzlich machte die Schweizer Praxis im Umgang mit Ritalin in den Medien die Runde (Lehrerfreund 07.05.2009: Schweizer Schulen befürworten Ritalin-Verschreibung); was Feuser berichtet, zeigt erstaunliche Parallelen: Lehrer/innen bestehen darauf, dass Kinder Ritalin nehmen - mit dem Ziel, dass der Unterricht läuft. Warnungen vor Langzeitfolgen (wie bspw. späterer Parkinson-Erkrankung) spielen keine Rolle. Diese Entwicklung wird von der Pharmaindustrie gepusht, die Pharmaindustrie verdient Unmengen von Geld damit - obwohl ADS/ADHS ein völlig unklares, ungenaues Krankheitsbild ist (so man denn von einer Krankheit sprechen kann). Für Feuser ist die exzessive Ritalinverschreibung ein "Verbrechen an der Menschheit" und gehört verboten.
Er begründet das u.a. mit Hinweis auf Placebostudien: Auch bei Placeboverabreichung (statt Ritalin) verändere sich der Gehirnstoffwechsel beim Kind.Schon durch die Medikamentenverabreichung erfährt das Kind Zuwendung, auf die es positiv reagiert (übrigens eine beliebte Argumentationsstruktur der Homöopathiegegner: Alleine durch die Zuwendung funktioniere Homöopathie). Außerdem wird das Selbstvertrauen des Kindes gestärkt: 'Du bist es wert, dass man sich mit dir beschäftigt. Jetzt wird dein Tag gut, denn du bist wertvoll.'
3. Die hyperaktive Gesellschaft
Feusers grundlegender Ansatz: ADHS ist keine “Störung”, sondern lediglich eine logische Reaktion auf die kulturellen Entwicklungen unserer selbst hyperaktiven Gesellschaft, an die sich die Kinder anpassen. Passen sich die Kinder so an, dass sie uns (den Erwachsenen, der Gesellschaft, der Marktwirtschaft und ihrem Wachstum ...) nicht in die Quere kommen, gibt es keine Probleme. Wenn Sie uns aber wie auch immer "stören, haben sie Pech gehabt".
Die Kinder passen sich an die Geschwindigkeit ihrer Umwelt an. Damit ist das gesamte Leben gemeint, nicht nur mediale Umwelt mit ultrakurzen, schnell geschnittenen Sequenzen. Schöne Ausführungen zu diesem Komplex u.a. bei Chrstoph Türcke: Hyperaktiv!: Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur.
Das alles ist nicht besonders neu. Feusers Interpretation ist jedoch interessant: Wenn sich Kinder dieser irren Achterbahngesellschaft anpassen, dann handeln sie
normal, um nicht zu sagen geschickt. Wenn wir so weit denken würden, hätten wir kapiert, dass viele Verhaltensweisen, die als ADHS-Symptom gelten, im Grunde Fähigkeiten sind. Bloss solche, die uns stören.