Pädagogische Freiheit
4 = 5: Zeugnisnote darf vom rechnerischen Mittel abweichen 06.09.2010, 17:10
Das Verwaltungsgericht Braunschweig (Niedersachsen) hat den Antrag eines Schülers abgelehnt, der im Fach Französisch im Zeugnis eine 5 bekam, obwohl er rechnerisch (mündlich + schriftlich) auf 4,41 stand. Damit wird der Schüler nicht versetzt. Die Urteilsbegründung: Noten sind eher nach pädagogischen als nach arithmetischen Gesichtspunkten zu vergeben, wobei auch die Leistungsentwicklung der jüngsten Zeit einfließen kann.
Der Fall
Ein niedersächsischer Gymnasiast hatte in Französisch und Mathematik im Zeugnis die Note “5” erhalten. Damit konnte er nicht in die 8. Klasse versetzt werden. Die Eltern des Schülers stellten einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht Braunschweig:
[...] die Note im Fach Französisch sei fehlerhaft, weil sie vom rechnerischen Durchschnitt seiner Leistungen abweiche. Die Französisch-Lehrerin hatte die Endnote damit begründet, dass die Leistungen des Schülers sich deutlich verschlechtert hätten: Er habe in den beiden letzten Vokabeltests eine 6 geschrieben und zuletzt wiederholt seine Hausaufgaben nicht angefertigt. Darüber hinaus bestünden gravierende Mängel in den Bereichen Grammatik und Wortschatz [...]
Die Eltern warfen der Lehrerin also vor, den Notendurchschnitt missachtet zu haben und willkürlich vom Mittelwert abgewichen zu sein.
Begründung
Das Gericht lehnte den Eilantrag mit folgender Begründung ab (Beschluss vom 10.08.2010, Aktenzeichen 6 B 149/10):
Für seine schriftlichen und mündlichen Leistungen im zweiten Schulhalbjahr und in dem für das Versetzungszeugnis ebenfalls zu berücksichtigenden ersten Halbjahr ergebe sich zwar eine Durchschnittsnote von 4,41. Die Lehrer seien aber bei der Notenvergabe nicht strikt an rechnerische Durchschnittsnoten gebunden und auch nicht dazu verpflichtet, in einem solchen Fall stets auf die Note 4 abzurunden. Sie müssten nach den rechtlichen Vorschriften bei der Notenvergabe vielmehr in pädagogischer Verantwortung eine Gesamtbewertung vornehmen, die die Beobachtungen im Unterricht sowie die Lern- und Leistungsentwicklung berücksichtige. Dies könne die Lehrkraft im Einzelfall zur Festsetzung einer Gesamtnote berechtigen, die von der sich rechnerisch aus den erbrachten Leistungen ergebenden Durchschnittsnote abweicht. Insbesondere dürfen die Lehrkräfte - so die Richter weiter - bestehende Lücken im fachbezogenen Grundwissen negativ berücksichtigen, die die Lernentwicklung in den kommenden Schuljahren erheblich beeinträchtigen können. Außerdem dürfe in die Notenbildung einfließen, dass einige der zuletzt erbrachten Leistungen, denen eine erhebliche Bedeutung bei der Beurteilung des Lern- und Leistungsstandes zukommt, eine Lernentwicklung mit negativer Tendenz erkennen lassen. Die Lehrerin oder der Lehrer müsse allerdings nachvollziehbar begründen, dass ein tragfähiger Grund dafür besteht, vom rechnerisch zu ermittelnden Leistungsbild abzuweichen.
Danach sei die Französisch-Note rechtlich nicht zu beanstanden. Die Lehrerin habe ausreichend begründet, warum sie vom rechnerischen Durchschnitt abgewichen sei.
Verwaltungsgericht Braunschweig 06.09.2010: Zeugnisnoten dürfen vom rechnerischen Durchschnitt abweichen, Hervorhebung Lehrerfreund
Diskussion: Was das für die Praxis der Notengebung bedeutet
Die richterliche Begründung ist für die praktizierende, Noten gebende Lehrkraft deshalb interessant:
1. Gesamtbewertung als pädagogischer Akt
Noten haben in erster Linie eine pädagogische Funktion, auch wenn sie juristisch den Verwaltungsakten zuzuordnen sind. Nach Auffassung der Richter ist für die letztendliche Entscheidung die pädagogische Intuition der Lehrer/in maßgeblich - nicht das arithmetische Mittel der über das Schuljahr hinweg erbrachten Leistungen.
2. Abweichungen vom rechnerischen Mittel nur im “Einzelfall”
Die Richter stellen durch diese Formulierung klar, dass nur in Sonderfällen vom rechnerischen Mittel abgewichen werden soll. Damit wird das System der arithmetischen Notengebung gestützt.
3. Ausschlag gebend: Leistungsentwicklung in jüngster Zeit
Viele versetzungsgefährdete Schüler/innen geben gegen Ende des Schuljahres noch einmal richtig Gas, um ihren Notenschnitt vielleicht doch noch zu verbessern. Warum sollte man spätes Engagement nicht belohnen (sofern es nicht nur die letzten zwei Schulwochen betrifft)? Im aktuellen Fall waren auch Noten aus dem ersten Schulhalbjahr relevant, deren Gewicht in Bezug auf die aktuelle ungenügende Leistung durchaus vernachlässigt werden kann.
4. Bestehende Lücken im Grundwissen negativ berücksichtigen
Der Schüler wies gravierende Mängel in den für das Fach relevanten Diszplinen (Grammatik, Wortschatz) auf. Dieses Argument ist schwer nachzuvollziehen: Offensichtlich haben die Kompetenzen des Schülers ausgereicht, um einen Notendurchschnitt von 4,41 zu erzeugen. Damit muss sich die Lehrerin an die eigene Nase fassen, da ihre Methoden der Leistungsmessung offensichtlich nicht angemessen waren.
Fazit: Rechnen oder raten?
Notengebung ist immer ein subjektiver Akt. Dabei geht es gar nicht unbedingt nur um Fragen der Zu- oder Abneigung: Noten werden auch beeinflusst durch die Vornamen der Schüler/innen, durch Rollenbilder in Lehrerköpfen oder durch sonstige Beurteilungsfehler. Das ändert sich auch nicht durch das Rechnen auf die dritte Stelle hinterm Komma. Insofern ist das Urteil des VG Braunschweig zu begrüßen. Denn dadurch wird auch die entgegengesetzte Möglichkeit gegeben: Man kann auch mal ein Auge zudrücken und aus einer 4.6 eine 4 machen. Das Gericht trifft allerdings keine Aussage über die mögliche Spannbreite der Abweichung. Wenn aus einer 4.41 eine 5 werden darf - darf dann auch aus einer 4.3 eine 5 werden? Und vielleicht aus einer 4.1 eine 5?
Grundsätzlich gilt bei der Notengebung wie im Strafprozess: in dubio pro reo - im Zweifel für den Angeklagten. Nach Auffassung der Französischlehrerin und des VG Braunschweig gab es im aktuellen Fall jedoch keine Zweifel. Klar ist: Lehrer/innen sollten immer grundsätzlich pädagogisch agieren - und sich nicht zu Sklav/innen des Zehntels machen lassen.