Moral und Pädagogik
Darf man während des Korrigierens am Notenschlüssel drehen? 20.05.2015, 23:48
Sie haben eine Arbeit geschrieben - beim Korrigieren fällt Ihnen auf, dass die Arbeit einfach zu schwer war oder dass Sie unverständliche Aufgaben gestellt haben. Deshalb verändern Sie den Notenschlüssel, indem Sie bspw. die Schwelle für das »Ausreichend« verschieben. In bestimmten Situationen ist das pädagogisch/moralisch nicht nur zulässig, sondern sogar erforderlich.
Notenschlüssel mit »Sockel« und »Knick« justieren
Wenn Sie nicht genau wissen, was Sockel und Knick beim Notenschlüssel bedeuten und wie man Notenschlüssel entsprechend anpasst, dann lesen Sie unbedingt zuerst das hier: Praxistipp: Notenschlüssel anpassen mit Sockel und/oder Knick. Dort finden Sie auch wieder einen Link zurück zu diesem Beitrag.
Dürfen Notenschlüssel individuell gestaltet werden?
Die Gestaltung von Notenschlüsseln liegt oft im Ermessen der Lehrer/in - man nennt es auch pädagogische Freiheit. Allerdings gibt es Situationen, in denen es Vorgaben gibt: Beim Abitur oder bei IHK-Prüfungen ist die Gestaltung des Notenschlüssels genau und verbindlich vorgegeben; oft legen Fachschaften fest, dass in bestimmten Situationen nur lineare Notenschlüssel verwendet werden sollen. Sie werden jedoch kaum eine offizielle Vorgabe (Erlass, Notenverordnung …) finden, in der die Gestaltung von Alltagsnotenschlüsseln explizit vorgegeben ist. Das gilt auch für die Gewichtung der schriftlichen und mündlichen Leistung. Schließlich ist Notengebung in erster Linie eine pädagogische Angelegenheit - und keine rechnerische (siehe z.B. hier: 4 = 5: Zeugnisnote darf vom rechnerischen Mittel abweichen).
Beispiel:
Sie waren mehrere Wochen krank, die Schüler/innen konnten sich nur selbst anhand mediokrer Arbeitsblätter vorbereiten. Dann ist es selbstverständlich, dass Sie den Schwierigkeitsgrad der nächsten Klassenarbeit senken.
Um den Schwierigkeitsgrad einer Klassenarbeit anzupassen, haben Sie drei Möglichkeiten:
- Sie stellen leichtere Aufgaben.
- Sie korrigieren großzügiger (= "ein Auge zudrücken").
- Sie verwenden einen milderen Notenschlüssel.
Welche dieser Möglichkeiten Sie benutzen und ob/wie Sie sie kombinieren, liegt in Ihrem Ermessen. Eines dürfen Sie aber nicht: Die Schüler/innen schlecht vorbereiten und dann mit der hammerharten Dr.-Gnadenlos-Klassenarbeit durch die kleinen Seelen pflügen. In Notenverordnungen ist (sinnvollerweise) klar geregelt: Sie dürfen nur bewerten, was die Schüler/innen in Ihrem Unterricht hätten lernen können.
Anspruchsniveau einer Arbeit nachträglich justieren
Stellen Sie sich vor, Sie schreiben eine Arbeit und stellen bei der Korrektur entsetzt fest, dass die Hälfte der Schüler/innen eine 5 (= nicht mehr ausreichende Note) bekommt. Wenn Sie erkennen, dass nicht die Schüler/innen zu faul waren, sondern Ihre Arbeit zu schwer, dann ist es Ihre pädagogische Pflicht, den Notenschlüssel entsprechend anzupassen (oder die Arbeit noch einmal neu zu schreiben). Sie könnten z.B. versuchen, die Leistungen der Schüler/innen in eine Normalverteilung zu pressen, was aber unpädagogisch wäre - gerade angesichts der Tatsache, dass Sie offensichtlich selbst nicht in der Lage waren, den Schwierigkeitsgrad Ihrer Klassenarbeit ordentlich einzuschätzen.
Wesentlich pädagogischer wäre es in diesem Fall, die Schwelle für ein "Ausreichend" zu verschieben. Inspizieren Sie Ihre Aufgaben noch einmal und legen Sie fest, wie wie viele Verrechnungspunkte Sie mindestens als notwendig für ein "Ausreichend" betrachten. Verschieben Sie den Knick dorthin und schauen Sie sich das Ergebnis an. Die Veränderung könnte im fiktiven Beispiel so aussehen:
Durch eine Verschiebung der "Ausreichend"-Schwelle auf 15 Punkte (Standard: ~32) holen Sie die meisten Schüler/innen aus dem mangelhaften/ungenügenden Bereich. Allerdings erhält die Hälfte der Klasse damit eine Note zwischen 3 und 4,4 (also zwischen "Befriedigend" und "gerade noch Ausreichend"). Die Entscheidung, ob dies den tatsächlichen Leistungsstand der Klasse abbildet, liegt bei Ihnen.
Mit dem Knick-Notenschlüssel des Lehrerfreunds können Sie einen solchen Notenschlüssel (auch für andere Notenskalen) nach Belieben modellieren und bei Bedarf einen Sockel einbauen.
Ist es unmoralisch, nachträglich am Notenschlüssel drehen?
Nein:
Sie als Lehrer/in bemerken, dass Sie sich im Anspruchsniveau vergriffen haben - und zwar bemerken Sie es erst dann, wenn die Schüler/innen die Arbeit schon geschrieben haben. Anders ausgedrückt: Die Arbeit war zu schwer, und das war IHR Fehler.
Dann ist es Ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Schüler/innen eine faire, ihrem Leistungsstand entsprechende Note bekommen. Entweder schreiben Sie die Arbeit neu oder Sie manipulieren am Notenschlüssel. Es wäre unmoralisch und unpädagogisch, stumpf Ihren geplanten Notenschlüssel durchzuziehen und den Schüler/innen eine ungerechte Note zu geben. Ein großer Teil der Eltern-Schüler-Konflikte dürfte auf diesem Mist wachsen.
In dem skizzierten Szenario ist die nachträgliche Manipulation am Notenschlüssel eindeutig nicht nur erlaubt, sondern sogar pädagogisch notwendig.
Sie könnten natürlich auch eine besonders schwere Aufgabe weglassen. Dadurch würden Sie jedoch möglicherweise den herausragenden Schüler/innen die Möglichkeit verbauen, zu zeigen, was in ihnen steckt. Eine Notenschlüsselmanipulation ist hier wesentlich eleganter.
Ja:
Sie haben eine Klassenarbeit geschrieben, korrigiert - und stellen fest, dass es unverhältnismäßig viele gute oder schlechte Noten gibt. Sie haben Angst vor den Schüler/innen oder Eltern, die sich wegen der vielen schlechten Noten bei Ihnen beschweren könnten; Sie haben Angst vor den Kollegen, die Sie wegen der vielen guten Noten als inkonsequentes Weichei beschimpfen; Sie haben Angst vor dem Direktor, der einen normalverteilten Notenspiegel wünscht.
Deshalb drehen Sie am Notenschlüssel, um den Ansprüchen von außen gerecht zu werden und keinen Ärger zu bekommen. Ein solches Verhalten pervertiert die Idee einer möglichst objektiven Leistungsmessung und löst den Zusammenhang zwischen Unterricht und Noten auf. Die der Notengebung implizite Perversion (nämlich Lernfortschritt in Zahlen ausdrücken zu wollen) wird so auf die Spitze getrieben.
In solchen Fällen wäre eine nachträgliche Manipulation des Notenschlüssels in hohem Maße unpädagogisch und unmoralisch.